In Kassel war die Baukultur verschiedener Zeiten in einer nahezu geschlossenen Abfolge von Stadtteilen nebeneinander erlebbar, bis Zweiter Weltkrieg und Neuaufbau einen tiefgreifenden Bruch bedeuteten. Doch nach welchen Gesichtspunkten wurde jeweils Planung betrieben? Worin äußert sich die jeweilige Baukultur – was ist Baukultur überhaupt? Das nahezu lückenlose Nebeneinander von Epochen macht Kassel dabei zu einem besonders lohnenswerten Gegenstand für unsere Betrachtungen.
Spätmittelalter und Renaissance
Den Kern bildeten die mittelalterlichen Stadtteile Altstadt, Unterneustadt und Freiheit. Sie stammen aus einer Zeit, die im allgemeinen Bewusstsein noch wenig mit Baukultur assoziiert wird, abgesehen von einigen großen Kirchen und Kathedralen und vielleicht einzelnen Profanbauten. »Krumm-enge Gässchen, spitze Giebeln« (Goethe, Faust II) waren lange Zeit der Inbegriff planloser Stadtanlagen und enger Altertümlichkeit; zwar erkannte das späte 19. und frühe 20. Jh. die ästhetischen Reize alter Städte, doch hielt man sie nur für zufällige Unregelmäßigkeiten. Dies mag in vielen Fällen auch zutreffen, aber planmäßige Stadtan-lagen wie in weiten Teilen der Kasseler Kernstadt lohnen eine differenziertere Betrachtung. Beginnen wir dabei zunächst mit der Bebauung.
Bis in das 16. Jh. war Kassel eine reine Fachwerkstadt, denn nur Stadtmauer und -türme, Kirchen und Klöster sowie einzelne Gebäude für Markt und Handel wurden als teure Steinbauten errichtet; selbst die landgräfliche Burg besaß in der Mitte des 15. Jh. noch einen Oberstock aus Fachwerk. Die größeren Bürgerhäuser waren meist giebelständig – so floss der Regen von den Dachflächen nicht auf die Straße, sondern zwischen die Häuser, und die hoch aufragenden Giebel ergaben ein repräsentativeres, abwechslungsreiches Straßenbild. Lasierte Holzbalken kontrastierten mit weißen Gefachen, horizontale Stockwerksüberstände und vertikale Hauszwischenräume sorgten für lebhafte Licht- und Schattenwirkungen. Gerade jene Überstände sind bereits als wichtiges Gestaltungsmittel anzusehen: konstruktiv unnötig, den Holzverbrauch enorm steigernd, waren sie meist auf die Straßenseiten beschränkt.
Der hessische Fachwerkbau scheint in seinen Grundzügen um 1200 voll ausgebildet gewesen zu sein. Diese Entwicklung hatte eine wirkungsvollere, straßenbegleitende Bebauung zur Folge, was anscheinend auch einen Innovationsschub in der Stadtplanung nach sich zog. Zwar waren schon im 12. Jh. die hessischen Städte planmäßig angelegt und in Ruten und Fuß eingemessen worden, wobei Geländebeschaffenheit und Parzellierung oft zu Krümmungen, wechselnden Straßenbreiten und Vorsprüngen geführt hatten. Nun aber erkannte man offenbar, welches gestalterische Potenzial in derartigen Unregelmäßigkeiten liegt. Und so finden wir in den hessischen Stadtgründungen des 13. und 14. Jh. in gleichen räumlichen Situationen fortan konsequent auch die gleichen Merkmale – in Kassel betrifft dies die Herrengasse (Wildemannsgasse) um 1216/17, die Unterneustadt (vor 1283 gegr.) und die Freiheit (um 1330 gegr.). Während kurze Straßen – soweit möglich – weiterhin gerade geführt sind, untergliedern Krümmungen, Knicke oder vorspringende Hausecken solche langen Straßenzüge, deren Endpunkte zu weit entfernt sind, um als wirkungsvoller Blickfang dienen zu können; statt dessen wird das Auge über die Häuserfronten geleitet oder findet an den Vorsprüngen Halt. In Witzenhausen (um 1225), dessen Planung sich in einer flachen Ebene frei entfalten konnte, ist der Straßenverlauf besonders konsequent nach der Länge unterschieden: bis ca. 140 m geradlinig, bis ca. 180 m einmal abknickend, darüber hinaus entweder S-förmig gebogen oder einfach gebogen mit zusätzlichem mittleren Versprung. Auch von offenen Straßenenden oder schmucklosen Stadttoren wird in den Planstädten abgelenkt, wohingegen Tortürme als Blickpunkte gerader Straßen genutzt werden. Bei stark ansteigendem Gelände vermeiden Krümmungen und Vorsprünge, dass der Blick bloß auf die Fahrbahn oder – in der Gegenrichtung – über die tiefer gelegenen Häuser hinweg fällt. Wichtige Straßenkreuzungen sind als geschlossene Platzbilder gestaltet, indem die Straßen gegeneinander versetzt werden oder derart gebogen sind, dass ihre Häuserfronten das Bild bestimmen. Dabei wird die besonnte Straßenseite bevorzugt, wie auch die Stadtkirchen immer ihre Südseite gegen die Kirchplätze und Hauptstraßen wenden – nicht die Nordseite, die stets verschattet und nur im Gegenlicht zu sehen ist. Und die Aufteilung der Parzellen ließ an den Hauptstraßen und -plätzen meist auch größere, repräsentativere Häuser erwarten.
Daneben gab es aber auch praktische Fragen zu lösen: Wie konnte sich ein Fremder in einer Stadt zurechtfinden – ohne Stadtpläne und Straßenschilder? Eine wichtige Orientierungshilfe boten Sichtbeziehungen und Kirchtürme; ansonsten wurden Haupt- und Nebenstraßen auch auf weitere, subtile Arten unterschieden, etwa durch unterschiedliche Breite (und sei es nur als Aufweitung oder Verengung in den Mündungsbereichen) oder indem an Gabelungen der Blick stärker in die Hauptstraße gelenkt wird.
Mehrfach wird deutlich, dass Gestaltungsaspekte aus älteren Stadtanlagen entlehnt wurden, dort aber noch rein pragmatische Gründe (Gelände, Einmessung etc.) hatten und bisweilen gestalterisch sogar kontraproduktiv waren. Erst durch ihre geschickte Weiterentwicklung und Kombination entfalteten sie vielfach ihre ganze ästhetische Wirkung, nun als reine Stilmittel. In dieser Weise dürfte sich das Repertoire der Stadtplaner auch herausgebildet haben: durch Erfahrungen, ebenso wie in der Architektur, die gerade zu jener Zeit einen enormen technischen Innovationsschub auf den kirchlichen Großbaustellen in Frankreich erlebt hatte. (Man bedenke, dass sogar Gebäude-Einstürze aufmerksam beobachtet wurden, um daraus für künftige Bauprojekte zu lernen.) Ein solches, auf Erfahrung und Weiterentwicklung basierendes Vorgehen in der Stadtplanung setzt ein gutes Raumempfinden voraus, außerdem die Fähigkeit, gestalterische Mängel und mögliche Lösungen zu erkennen und miteinander in Verbindung zu bringen. Das erworbene Wissen wurde anscheinend auch über mehrere Generationen hinweg weitergegeben.
In Hessen waren vermutlich die landgräflichen Zimmermeister für die Stadtplanung zuständig. Während man im 12. Jh. die Straßen und Parzellen wohl noch an Ort und Stelle festgelegt hatte, lässt die Komplexität der jüngeren Planungen annehmen, dass man zuerst das Gelände aufmaß und dann einen vermaßten Entwurf mit rechtwinkligen Hilfslinien anfertigte, nach dem die Absteckung vor Ort erfolgte. Die Kasseler Freiheit ist dabei derart dem Gelände angepasst, dass offene Wasserrinnen alle Straßen versorgen konnten; die Druselgasse als Hauptverteiler schnitt die Längsstraßen genau in ihren höchsten Punkten. Dazu nutzte man einen umgeleiteten Bach und verstärkte ihn mit Wasser des Druselbachs – mittels eines ca. 4,5 km langen, sorgsam nivellierten Kanals.
Betrachten wir die hessischen Städte des Mittelalters, so können wir insgesamt festhalten: Ihr Reiz liegt nicht in den Unregelmäßigkeiten des Grundrisses per se, sondern in deren gezielter Anwendung. Voraussetzung dafür waren wiederum abwechslungsreiche, repräsentative Häuserzeilen, die allerdings durch einheitliche Materialien und gleiche Bauweise zu einer harmonischen Gesamtheit zusammengeschlossen wurden.
Besonders komplexe Bauplanungen finden wir erwartungsgemäß an den Kirchen. In enger Abstimmung mit den geistlichen Auftraggebern galt es, mehrere Aspekte zu beachten. So konnte bereits die Bauform eine Aussage vermitteln: Einer einfachen Pfarrkirche etwa stand nur ein Turm zu, dagegen gebührte der Freiheiter Stiftskirche St. Martin eine Doppelturmfassade. Bei der Brüderkirche entsprachen Turmlosigkeit und Schlichtheit dem Armutsideal des Karmeliterordens, und ihre Anknüpfung an Vorbilder aus dem mainzischen Erfurt führte anschaulich die neuen politischen Beziehungen zwischen Hessen und dem Erzstift Mainz vor Augen; nach jahrzehntelangen Konflikten hatten diese nicht nur die Erhöhung Hessens zur Landgrafschaft, sondern auch die Ansiedlung der Karmeliter in Kassel ermöglicht. Als asymmetrische Hallenkirche mit nur einem Seitenschiff entsprach die Brüderkirche den Nutzungsanforderungen für Predigt (ein Schwerpunkt des Ordens) und Messfeiern. Betrachtet man den Grundriss genauer, so sind die Hauptmaße auf den Zahlen 7 und 12 aufgebaut – die Gesamtlänge z. B. misst 168′ = 2 * 7 * 12′, während im Inneren der Chor samt dem Lettnerjoch mit dem Gemeindealtar genau 84′ = 1 * 7 * 12′ lang ist. Und die innere Hauptschiffbreite beträgt 28′ = 4 * 7′. Allen diesen Zahlen waren im Mittelalter bestimmte Bedeutungen zugeordnet, die hier anscheinend bewusst gewählt wurden. Einzelne Verhältnisse im Grundriss und im Aufriss sind auch von Teilungen aus der musikalischen Harmonielehre (1:1, 1:2, 2:3, 3:4) oder dem Goldenen Schnitt bestimmt; mehrere Bögen sind über gleichseitigen Dreiecken konstruiert.
In der Verwendung von Zahlen und harmonischen Verhältnissen spiegeln sich Traditionen wider, die schon auf die Kirchenväter zurückgehen und ältere antike Vorbilder aufgreifen. So wird ein Kirchengebäude als Sinnbild des Himmlischen Jerusalem verstanden, wobei Gott die Schöpfung (gleichsam als kosmischer Baumeister) nach Maß und Zahl geordnet hat; Bauherren und Baumeister handeln nun analog zum Schöpfertum Gottes und je mehr etwas geordnet, von Zahlen durchdrungen ist und harmonischen Verhältnissen entspricht (und sich damit dem Ideal des Kosmos annähert), desto besser und schöner ist es.
In der etwas jüngeren Martinskirche dagegen bestimmten verstärkt auch geometrische Formen und Konstruktionen die Maße, z. B. die Höhe der Pfeilerbasen. Überhaupt sind Brüder- und Martinskirche hochrangige Kirchenbauten, die noch viel zu wenig beachtet sind: Die Brüderkirche ist ein wegweisender Schlüsselbau der niederhessischen Gotik und die Martinskirche entwickelte Einflüsse der Brüderkirche und anderer hessischer und thüringischer Kirchen derart geschickt weiter, dass sie in konsequenter architektonischer Struktur geradezu perfektioniert wurden.
Zur Architektur gehörte untrennbar auch die innere und äußere Farbfassung dazu – die heutige Steinsichtigkeit älterer Bauten ist erst ein Irrtum des Historismus. Eine rote Fassung aller Architekturteile und der Fenstergewände rhythmisierte in der Brüderkirche den Innenraum und band Mauern, Scheidarkaden und Gewölbe zu einer Gesamtheit zusammen. Die Fenstergewände hatten dabei samt der Farbfassung eine Breite von genau 7′. Und das weiß-rote Farbenspiel der gleichfalls verputzen Außenmauern fügte sich günstig in die Fachwerkstadt ein.
Auch auf die städtebauliche Einbettung der Kirchen wurde große Sorgfalt gelegt: So verdeckte in der Freiheit das Rathaus (später Tuchhaus) einen Teil der Martinskirche; die drei sichtbaren Joche mit mittlerem Portal entsprachen dabei den typischen niederhessischen Stadtkirchen – erst beim Betreten eröffnete sich dem überraschten Betrachter die ganze Größe des Kirchenraums. Der Kirchenentwurf selbst reagierte wiederum auf seinen Standort, indem u. a. die Südseite zum Marktplatz als Schaufront, die Westseite dagegen untergeordnet behandelt ist.Städtebau undArchitektur sind untrennbar miteinander verwoben.
Die hessische Renaissance ist größtenteils eine Weiterentwicklung aus der örtlichen Spätgotik – um moderne Strömungen bereichert. Das Landgrafenschloss und die neuen Festungswerke waren jahrelang weithin beachtete Großbaustellen und zwischen 1567 und 1606 entstanden in fürstlichem Auftrag, unter Wilhelm IV. und Moritz, weitere große Steinbauten wie Fruchtspeicher, Salzhaus, Kanzlei, Zeughaus, Elisabethhospital und Marstall, die Hofschule im Renthof und das Ottoneum als erster fester Theaterbau Deutschlands – verantwortlich war zumeist die Schreiner- und Baumeisterfamilie Müller. Diese Bautätigkeit, an der die Landgrafen lebhaft Anteil nahmen, wurde zum Vorbild für einzelne wohlhabende Bürger – meist Kaufleute und Regierungsmitglieder; sie leisteten sich nun Steinfassaden, die sich nahtlos in die Fachwerkstadt einfügten: Gurtgesimse entsprachen dem Stockwerksüberstand, gekoppelte Fenster lehnten sich an die dichten Fensterreihungen des Fachwerks an. Der Fachwerkbau veränderte sich vor allem in Einzelformen. Er wurde bunter, reich verzierte Quergebälke wurden charakteristisch und die Hofseiten glichen sich an die Straßenfassaden an. Sockelgeschosse wurden immer häufiger aus Stein errichtet und aufwendige Portale oder Konsolen belebten das Stadtbild.
Die bürgerliche Baukunst war dabei regional sehr unterschiedlich; das hessische Fachwerk finden wir nur im alten Stammesgebiet um Fritzlar und Kassel bis nach Marburg, Alsfeld und Hersfeld; schon an der Diemel, in Münden und in den einst thüringischen Gebieten an der Werra gibt es eigene Bauformen, die teilweise aber bis nach Kassel ausstrahlten. Der Kasseler Baubestand war dabei einzigartig: Denn keine hessische Landstadt oder Nebenresidenz zeigte über Jahrhunderte hindurch einen derart kontinuierlichen Wohlstand wie die Hauptresidenz an der Fulda, mit einer vergleichbar hohen Qualität an Schnitz-und Bildhauerarbeiten.
Barockzeit und Aufklärung
Der Dreißigjährige Krieg hatte für die Wirtschaft Hessens und die fürstliche Bautätigkeit verheerende Folgen. Gleichwohl entstanden zahlreiche bedeutende Bürgerhäuser; und Musterbücher verbreiteten weiterhin neue Formen und Ideen in Mitteleuropa. Auch wenn sich die Einzelheiten modisch wandelten, so wurde die örtliche Bautradition zunächst kontinuierlich fortgeschrieben.
Ein Umbruch setzte Mitte der 1680er-Jahre unter Landgraf Carl ein: Der junge Fürst trieb die Modernisierung des Landes voran, suchte Anschluss an neuste Entwicklungen und rief 1685 die Hugenotten ins Land – sogar schon kurz vor der großen Fluchtwelle; mit ihnen war die Hoffnung auf den Import technischer Fähigkeiten und Innovationen verbunden, um die heimische Wirtschaft zu stärken und konkurrenzfähig zu machen. Politische Reisen Carls, etwa in die fortschrittlichen Niederlande und nach Brandenburg, boten erste Anregungen für seine Neubauten und Gartenanlagen. Das Hofbauamt wurde in der Folge vergrößert und neu organisiert und für die Hugenottenkolonien richtete er ein eigenes Französisches Bauwesen ein.
1688 begann auf dem Kleinen Weinberg der Bau der Oberneustadt. Während die alte Kernstadt in ihren Festungswerken gefangen war, konnte die Neugründung ganz auf die Landschaft bezogen werden – oberhalb des Auehangs, weithin sichtbar, zugleich mit einem einzigartigen Fernblick bis zu Kaufunger Wald und Söhre. Die Schöne Aussicht wurde zu einer Schaufront mit den Palais hessischer Würdenträger und wohlhabender Bürger, und in der Mitte fiel der Blick auf Hauptfassade und Kuppel der Kirche. Im Übrigen waren zunächst schmale, kostengünstige Reihenhäuser geplant, doch fanden sich nur wenige Bauwillige. So führte Paul du Ry, der als Leiter des Französischen Bauwesens für die Ausführung der Oberneustadt zuständig war, das Fünffensterhaus mit Mansarddach ein: ein Haustyp, der eine neue hessische Bautradition begründete; und größere Bauten variierten Drei- und Fünffensterhaus.
Die Oberneustadt muss in ihrer Schlichtheit und Regelmäßigkeit geradezu revolutionär gewirkt haben, denn stärker hätte der Kontrast zur Kernstadt mit ihrem lebhaften Fachwerk kaum ausfallen können: gerade Straßen, einheitlich gestaltete, weiß verputzte Häuserzeilen, nur durch wenige farbige Akzente belebt (Tür- und Fensterumrahmungen, Sockel, Haupt- und Giebelgesimse), bloß zwei- bis dreigeschossig, mit Zwerchhäusern. Anders als im Mittelalter waren die Häuserzeilen nicht mehr als eigener Blickfang gedacht; sondern sie ordneten sich der Kirche unter, die auf diese Weise eine städtebauliche Fassung, einen einheitlichen Rahmen erhielt. Die Kirchenfassade wiederum fügte sich mit ihrem Giebel in die umgebenden Haustypen ein, sodass Kirche und Häuserzeilen zu einer baulichen Gesamtheit verklammert waren.
Die höfischen Neubauten Kassels wurden bis 1712 durch den Hofbaumeister Johann Hartmann Wessel und bald vor allem auch durch seinen jüngeren Kollegen Johann Conrad Giesler ausgeführt, der die Barockarchitektur Kassels nachhaltig mitprägte (u. a. wohl Umbau des Ottoneums, Orangerieschloss, Fassadenumplanung der Oberneustädter Kirche, mehrere Palais an der Schönen Aussicht, Observatorium = heutiges Palais Bellevue).
Daneben bat Carl an verschiedenen anderen deutschen Höfen um Entwürfe und nahm auch italienische Künstler in seine Dienste. Hessen fand in Bau-und Gartenkunst wieder Anschluss an die aktuellen Entwicklungen in Europa
– ein Erbe, an das Carls unmittelbare Nachfolger Friedrich I. und Wilhelm (VIII.) allerdings nur begrenzt anknüpften; in dieser Zeit ist hauptsächlich der Kontakt zu François Cuvilliés d. Ä. hervorzuheben (ausgeführt: Wilhelmsthal und in Kassel die Gemäldegalerie Wilhelms).
Das Ende des Siebenjährigen Kriegs und die Regierung Landgraf Friedrichs II. bedeuteten für Kassel einen erneuten Aufschwung im Bauwesen: Friedrich ließ nicht nur die Carlsaue vollenden, sondern er ordnete auch die Schleifung der Festungswerke und die Verbindung von Kernstadt und Oberneustadt an. Tatsächlich waren die gewaltigen Gräben und Wälle der modernen Artillerie nicht mehr gewachsen. Das Hofbauamt stand nun vor dem Problem, zwei gänzlich unterschiedliche Städte miteinander verbinden zu müssen, wobei die kleinteiligere Altstadt auch noch wesentlich tiefer lag; zudem war das Gebiet der Festungswerke als Baugrund kaum geeignet. Die Lösung fand Simon Louis du Ry, der einige Jahre zuvor Stockholm, Paris und Rom bereist hatte: Große Plätze sollten zwischen den Städten und ihren verschiedenen Maßstäben vermitteln. Und Garde-du-Corps-Platz sowie Leipziger Platz (heute Unterneustädter Kirchplatz) bildeten jeweils Entrees hinter den Stadttoren.
Das Hofbauamt lieferte alle Neubauentwürfe für die Stadterweiterung, sodass ganze Ensembles geschaffen werden konnten, die sorgsam aufeinander abgestimmt waren. Versuche, die Kernstadt durchgreifend zu modernisieren,
scheiterten allerdings am Widerstand der Hausbesitzer. Zumindest wurden Musterentwürfe für Neubauten durchgesetzt und allmählich verschwand das unmodern werdende Fachwerk der Kernstadt unter einem einheitlichen weißen Verputz.
Die barocken Architekturformen wurden unter du Rys Federführung zeitgemäß weiterentwickelt; sein Museum Fridericianum ist dabei einer der ersten klassizistischen Bauten in Deutschland, beachtenswert auch als innovative und mehrfach rezipierte Lösung einer gänzlich neuen Bauaufgabe.
Das 19. Jahrhundert
Die Bautätigkeit in den neueren Vierteln wurde nach 1800 zunehmend von Maurermeistern bestimmt, die sich als Bauunternehmer engagierten. Nur einzelne Großprojekte wie den heutigen Brüder-Grimm-Platz betreute noch das Hofbauamt. Eine letzte große Stadterweiterung unter fürstlicher Ägide waren – nach längeren Vorplanungen – in den 1830er-Jahren der heutige Ständeplatz und später der Bahnhof, der genau auf die nördliche Randstraße des Friedrichsplatzes bezogen war; eine Verbindungsstraße im Zuge der heutigen Treppenstraße scheiterte jedoch am Widerstand des Magistrats, wie sich überhaupt die politische Situation jener Zeit lähmend auf die Stadtentwicklung auswirkte.
Nach Klassizismus und Empirestil (das neue, 1815 bzw. 1821 begonnene Residenzpalais galt mit seinen farbenprächtigen, bis in das Mobiliar durchgeplanten Innenräumen als beste Leistung des Empirestils in Deutschland) kamen mit italienischer Renaissance und Rundbogenstil neue Einflüsse in der Baukunst. Ständehaus, Synagoge und der vielfarbige Backsteinbau des Bahnhofs sind wichtige, über Kassel hinaus wirkende Bauten. Und an der Höheren Gewerbeschule lehrte 1852–64 Georg Gottlob Ungewitter, der ein Wegbereiter der archäologischen Neugotik in Deutschland war und mehrere einflussreiche Musterbücher herausgab.
1866 wurde Kurhessen durch Preußen annektiert, Kassel zur Hauptstadt der neuen Provinz Hessen-Nassau bestimmt; der nachfolgende wirtschaftliche Aufschwung der Stadt ging mit einem regelrechten Bauboom einher, der sich nach der Reichsgründung 1870/71 noch verstärkte. Die Stadtentwicklung wurde zu einem großen Teil von privaten Investoren vorangetrieben, die eigenes Land parzellierten und z. T. auch Straßen anlegten oder die im großen Stil Grundbesitz aufkauften. Zu nennen ist vor allem der Fabrikant Sigmund Aschrott, der das neue »Hohenzollernviertel« westlich des Ständeplatzes nach städtischen Planungsvorgaben erschloss und vermarktete. Ästhetische Gesichtspunkte und Geländeform spielten zunächst keine Rolle. Jenseits der Querallee, in der Wehlheider Gemarkung, in der Aschrott eigenständiger agieren konnte, engagierte er dagegen den »Privatbaumeister« Friedrich Neumann, der die aktuellen Entwicklungen im Städtebau berücksichtigte: Diagonalstraßen bewältigten das starke Gefälle und ermöglichten Straßenbilder mit wirkungsvoll platzierten Eckhäusern; Kirchtürme wurden als Blickpunkte vorgesehen, mehrere Straßen auf das ferne Herkulesmonument ausgerichtet. Fast alle Straßen waren als dichte Alleen bepflanzt und vielfach wurde im Randstreifen zwischen den Bäumen Mosaikpflaster verlegt.
Die besondere Qualität dieses Stadtteils liegt aber nicht nur in seinem Straßensystem, sondern auch in der sorgsamen Differenzierung verschiedener Bauweisen: Während die Hohenzollernstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße) als Haupt- und Geschäftsstraße konzipiert war, erhielten die übrigen Straßen verschiedene Charaktere; Bauhöhe und Straßenbreite waren eng aneinander gebunden, Straßenabschnitte mit freistehenden Villen, Reihenvillen, großen Wohnhäusern mit oder ohne Vorgärten wechselten sich ab. Dies erzeugte eine lebendige Durchmischung und vermied Häusermeere ebenso wie reine Villenviertel; die nötige Versorgung durch Läden war stets fußläufig erreichbar. Kirchen und öffentlichen Bauten trugen zu dieser Durchmischung und Abwechslung bei; eine Kaserne und Behörden dienten als wichtige Entwicklungsfaktoren für ihre Umgebung. Eine vergleichbare Durchmischung, nur viel komprimierter, zeichnet nach 1885 z. B. auch die Südstadt aus.
Mehrere Bauformen hatten sich erst im 19. Jh. herausgebildet: Innenstadt-nahe Villen waren seit der Mitte des 19. Jh. in den Gärten des Weinbergs, an der Kölnischen Allee und der Mönchebergstraße gebaut worden – in Weiterentwicklung kleinerer Gartenhäuser oder vorstädtischer Wohnhäuser, z. T. im Schweizer Landhausstil. Zugleich vermittelten freistehende Mehrfamilienhäuser (heute würde man sie als »Stadtvillen« vermarkten) in großen Gärten zwischen benachbarten Mietshauszeilen und Villen. Nach 1866 wurden die Villen bald repräsentativer; zu den besonders hochrangigen Beispielen zählt etwa die Villa Henschel auf dem Weinberg. Und Doppel- und Reihenvillen verbanden im späten 19. Jh. den Standard großer Mietwohnungen mit eigenem Hausbesitz und Garten.
Spätklassizismus und italienische Renaissance wurden in den 1880er-Jahren zunehmend durch Neugotik und deutsche Renaissance abgelöst und um 1900 verbreiteten sich Jugendstil, Neubarock und bald auch Neoklassizismus. Die Kreuzkirche entstand als geradezu revolutionärer Jugendstilbau, das Rathaus nahm als Palast der Bürgerschaft auf barocke Schlösser Bezug und das neue Hoftheater verband die Barockformen der Oberneustadt mit einem eleganten Jugendstil und modernster technischer Anlage; das Landesmuseum wurde von außen nach innen geschickt inszeniert, mit neuen, in die Moderne weisenden Stilformen. Überhaupt äußert sich vielfach bautechnischer Fortschritt, nicht nur in den Materialien, sondern auch in den Bauformen. Fernab historischer Stile bot besonders das Innere von Industriebauten ein freies Entwicklungsfeld; so spiegelten die drei verschiedenen Oberlichthallen der Salzmannfabrik binnen weniger Jahre in einzigartiger Weise die rasante Entwicklung wider, die von eisernen Fachwerkbindern hin zu massiven Betonkonstruktionen führte.
Die Fortschrittszuversicht des späten 19. Jahrhunderts hätte allerdings auch beinahe das Ende der Kasseler Kernstadt verursacht: Neue Fluchtlinien der Jahre 1885/86 hätten fast einen Totalabbruch bedeutet. Die Folge war ein sozialer Abstieg der Kernstadt; Investitionen lohnten kaum mehr, aber für Neubauten fehlte meist das Geld. In der Oberneustadt dagegen, mit ihren größeren Grundstücken, entstanden vor allem an Königsstraße und -platz fünf- bis sechsgeschossige historistische Fassaden; große Geschosshöhen, Klinker und Sandstein sprengten planlos die Maßstäbe der schlichten Barockstadt. Die Kritik an den Abbrüchen historischer Baudenkmäler und an den Neubauten wurde immer lauter …
Bauberatung und Stadtgestaltung 1913-1939
1913 begann der neue Oberbürgermeister Erich Koch(-Weser) dieser Entwicklung gegenzusteuern. Die Stadt hatte seit 1907 die Möglichkeit, die Aufgaben der Baupolizei zu übernehmen, wenn sie eine Gestaltungssatzung verabschiedete. Im Bauamt hatte man dies jahrelang verzögert, aber der aus Oldenburg stammende Koch ergriff nun die Initiative: Eine städtische Bauberatung unter Leitung des Architekten Erich Labes wurde eingesetzt, ein Sachverständigenbeirat eingerichtet und 1916 ein »Ortsstatut zum Schutze der Residenzstadt Cassel gegen Verunstaltung« verabschiedet; das Statut schützte in besonderer Weise die historische Innenstadt, aber auch die Wirkung zahlreicher jüngerer Bauten auf ihre Umgebung. Zudem enthielt es Vorgaben für ausgewiesene Neubaugebiete.
Erster Paukenschlag war 1915/16 der Wettbewerb für ein Hallenbad am Garde-du-Corps-Platz: Die eingereichten Entwürfe wurden abgelehnt, weil sie die städtebauliche Situation nicht hinreichend klären konnten; unter einigem Aufsehen in der Fachwelt erfolgte daher eine erneute Ausschreibung mit der Forderung nach einem städtebaulichen Konzept. Die Realisierung scheiterte allerdings an den Kriegsfolgen und der Hyperinflation. Ein nächster Erfolg war die Rettung des Brühlschen Hauses am Königsplatz: Einem der wichtigsten Rokokohäuser nördlich des Mains (um 1771) drohte der Abbruch zugunsten eines Bankhauses. Denkmalpflege und Bauberatung setzten den Erhalt des Hauses durch, erreichten die Verlagerung der geforderten Nutzungen in einen Anbau und sogar dessen formale Anpassung an die Fassaden des Bestandsbaus.
Insgesamt suchte man an das 18. und frühe 19. Jh. anzuschließen, als in Kassel bedeutende städtebauliche Ensembles geschaffen worden waren. Man widersetzte sich den »zu weitgehenden Wünschen der Bauherren, die keine erträglichen Lösungen erwarten ließen«, trat »allzu individuellen Neigungen der Architekten« entgegen und wirkte durch Beratungen, Vorträge und Ausstellungen ein; unter Verweis auf die Oberneustadt wurden bestimmte Haustypen als vorbildlich bezeichnet. Gruppierung, Gesamtwirkung und Zusammenspiel der Bauten wurden als wichtige Qualitätsmerkmale betont. »In den ersten Jahren fehlte es nicht an Versuchen, gegen die Bevormundung und Nivellierung Sturm zu laufen. Doch setzten sich die gestellten Anforderungen durch, weil sie sich als das Natürliche und Gegebene für Kassel erwiesen, und weil man anerkannte, daß jeder zur Erzielung harmonischer und geordneter Stadtbilder beizutragen hätte. Nicht die schlechtesten Architekten waren es, die innerhalb des gezogenen Rahmens erste Qualitätsleistungen erzielten«, konstatierte Labes 1927.
In der historischen Innenstadt reicht das Spektrum von der getreuen Kopie, um eine Baugruppe zu erzielen, bis zur behutsamen Integration moderner Formen in den Charakter der Umgebung. Im Zentrum stand die Wirkung innerhalb des Stadtbildes – historische Stilformen waren dabei kein Selbstzweck, wie im Historismus, sondern bloße Mittel zur Schaffung geschlossener Ensembles, zur Bewahrung und Aufwertung des Stadtbildes. Zudem begann man (zunächst wegen der Wohnungsnot) schrittweise eine Sanierung verfallender Fachwerkhäuser, die bald in eine systematische Altstadtsanierung mündete; die verheerenden Fluchtlinienpläne der Kernstadt hob man auf. Eine notwendige Entlastungsstraße zwischen Altmarkt und Martinsplatz wurde schließlich derart durch drei Häuserblöcke geführt (Freiheiter Durchbruch), dass die Kosten gesenkt und zwei bedeutende Straßenzüge in ihrer Randbebauung erhalten werden konnten; die Neubauten griffen mit Satteldächern, Zwerchhäusern und dichten Fensterreihungen einige stilunabhängige Charakteristika der Fachwerk-Kernstadt auf, gaben sich mit ihrer klaren Schlichtheit und dem weißen Verputz aber zugleich als Zeugnisse ihrer Bauzeit zu erkennen.
Der Siedlungsbau wurde angesichts der Wohnungsnot und der wirtschaftlichen Verhältnisse zu einem wichtigen Faktor; zugleich bot er eine ideale Möglichkeit, die angestrebte Ganzheit von Architektur und Städtebau umzusetzen. Beispiele dafür befinden sich etwa an Breitscheidstraße (Zeilenbebauung schon um 1922!), Huttenplatz, Akademiestraße, Hentzestraße, Karolinenstraße und Ihringshäuser Straße. Auch eine gartenstadtähnliche Siedlung wie das Flüsseviertel erhielt einen als Ensemble aufgefassten Kern (der Rheinweg), wobei man vorstädtische Bauformen des frühen 19. Jh. weiterentwickelte. Auf dem Rothenberg diente ein Kranz von Doppelhäusern dazu, Marienkrankenhaus und St. Joseph auf der markanten Bergkuppe städtebaulich einzubinden – denn auch jenen Gebieten, die vom Fluss, von Hauptstraßen und von der Eisenbahn aus sichtbar waren, räumte das Statut einen besonderen Stellenwert ein.
Labes arbeitete kongenial mit dem städtischen Baurat Ernst Rothe zusammen, unter Einbeziehung mehrerer freischaffender Architekten. Ende der 1920er-Jahre kam mit Rudolf Stier noch die Freiflächenplanung hinzu; zu nennen sind z. B. Stadthallengarten und Goetheanlage. Diese sollte ausdrücklich den Blick auf das Panorama von Habichtswald und Wilhelmshöhe dauerhaft freihalten, seitlich durch Siedlungsbauten rhythmisiert, als Blickpunkt die heutige Heinrich-Schütz-Schule: ein flacher Gebäuderiegel von Heinrich Tessenow, um dem Auge Halt zu bieten und räumliche Tiefe zu vermitteln und dann den Blick auf das Landschaftspanorama weiterzuleiten. Ein umfassender Grünflächenplan schuf Kleingärten, Naherholungsgebiete und Sportflächen und hielt über Bachläufe und Schutzstreifen die Verbindungen zwischen Stadt und Landschaft offen. Ein besonders gutes Beispiel für die Verbindung aller Disziplinen ist das Wilhelmshöher Freibad: städtebaulich in das Villengebiet eingebettet, mit weiten Panoramablicken über das Kasseler Becken und auf die Berge von Habichtswald und Wilhelmshöhe, die gebaute Architektur durch Gartenarchitektur ergänzt.
Kriegszerstörung und Neuaufbau
Die NS-Herrschaft hatte zunächst nur geringen Einfluss auf das Kasseler Baudezernat. Nur an der Wilhelmshöher Allee nahmen Finanzamt und Generalkommando bereits auf einen politisch geforderten Ausbau als Aufmarsch-Achse Bezug. 1939–41 erfolgte im Dezernat jedoch ein durchgreifender Personalwechsel, wobei der neue Stadtbaurat Erich Heinicke (aus Berlin) 1941 direkt durch den Gauleiter berufen wurde. Und nach dem Großangriff 1943 wurde im Folgejahr ein Planerstab zum Neuaufbau eingesetzt. Stadtbaurat Heinicke blieb bis zu seiner Pensionierung 1949 im Amt und präsentierte ein Jahr nach Kriegsende, 1946, in der Ausstellung »Kassel baut auf« jene Planungen, an denen man nur Hakenkreuze und »Gauhauptstadt« überklebt hatte; einer der Entwürfe war nach Kriegsverlust sogar eigens rekonstruiert worden. Nach breiten Protesten musste die Ausstellung vorzeitig abgebrochen werden und die Stadtverordneten forderten einen Wettbewerb ein; der erste Preis ging behutsam mit den historischen Strukturen um und suchte den Charakter der Innenstadt zu wahren, umgeben von Zeilenbauten der städtebaulichen Moderne. Doch wurden sehr bald andere Fakten geschaffen: Zum Leiter des Planungsamts ernannte man Werner Hasper, der bereits dem NS-Planungsstab angehört hatte und schon am Weimarer Gauforum beteiligt gewesen war; im Wettbewerb war er nur mit einem 4. Ankauf bedacht worden. In der Folge entwickelte er weitgehend seine eigenen Planungen und die Konzepte Heinickes weiter – wenn auch in reduzierter Form. Heinicke hatte bereits während des Krieges mittels flächendeckender Abbrüche Raum für die neue Gauhauptstadt geschaffen und ein Bauverbot für die Kernstadt verhinderte, dass die Eigentümer ihre Häuser in besten Geschäftslagen wiederaufbauten. Die fürstliche und preußische Vergangenheit wurde durch Abbrüche ebenso systematisch getilgt wie durch zahllose Straßenumbenennungen (z. B. Friedrichsplatz ¬ Friedrich-Ebert-Platz; Friedrichsstraße ¬ Robert-Blum-Straße; Hohenzollernstraße ¬ Karl-Marx-Straße; Kronprinzenstraße ¬ Friedrich-Engels-Straße etc.), die erst nach Einschreiten der amerikanischen Militärverwaltung teilweise rückgängig gemacht oder abgeändert wurden.
Der Neuaufbau von Altstadt und Freiheit entspricht auffallend einem Ideal der NS-Zeit und ist in den Grundzügen schon 1944 in Heinickes Planung erkennbar: Entenanger und (nun auch) Pferdemarkt als neugeschaffene Mittelpunkte zweier separater Siedlungen, Verzicht auf die übrigen schmalen Querstraßen, geringe Bewohnerdichte, Bezugnahme auf ländliche Kleinstädte (Anger = Dorfwiese!). Offene Blockecken und breite Verkehrsschneisen sollten im künftigen Luftkrieg ein schnelles Übergreifen der Flammen verhindern, die Schneisen zudem zur raschen Evakuierung dienen. Ein geplantes Aufmarsch-Gelände anstelle der Unterneustadt – am Ende eines großen Achsen-Systems vom Bahnhof über die Fuldabrücke – wurde zum Messeplatz. Die streng traufständige Bauweise im Heimatschutzstil ist nicht aus regionalen Bautraditionen abgeleitet, war aber in den 30er-Jahren bereits in der Mattenbergsiedlung umgesetzt worden. Dabei mag es kein Zufall sein, dass diese Konzepte gerade in der mittelalterlichen Kernstadt zur Anwendung kamen, die den NS-Machthabern als »Brutstätte« des Sozialismus und Kommunismus immer suspekt gewesen war …
Unter dem Einfluss des Stadtbaurats Bangert, der 1949 sein Amt angetreten hatte, flossen zunehmend auch Ideen der städtebaulichen Moderne in die Planungen ein. So flankierte man die Königsstraße als Haupteinkaufsstraße mit Parkplätzen an parallelen Zulieferstraßen.
Insgesamt verloren die wenigen historischen Gebäude, die in der Innenstadt erhalten und wiederhergestellt wurden, ihre städtebaulichen Zusammenhänge, mit denen sie einst sorgsam abgestimmt worden waren; und in ihrem eigenen Erscheinungsbild sind sie oft stark verändert. Gleiches gilt für zahlreiche Straßen- und Platzsituationen, die zwar übernommen, vielfach aber im Charakter der Randbebauung und z. T. in der Dimensionierung grundlegend verändert wurden. Während etwa die abwechslungsreich gedachte Kernstadt zu einer einheitlichen Siedlung gemacht wurde, entwickelte sich die einheitlich konzipierte Oberneustadt zu einem sehr disparaten Gebiet.
Daneben entstanden aber auch selbstständige, beachtenswerte Neuschöpfungen wie die Treppenstraße oder die Auefeldsiedlung. Das »Capitol« leitete bundesweit eine Epoche großer Filmpaläste ein und das Hochhaus an der Sophienstraße ist nicht nur als Aussichtspunkt, sondern auch als Blickpunkt mehrerer Straßen geschickt positioniert; überhaupt haben auch andere Hochhäuser jener Zeit stets eine städtebauliche Funktion als point de vue großer Straßen. Und an der Wilhelmshöher Allee wurden neue Großbauten dezent in Gartenanlagen zurückgesetzt, was – ebenso wie mehrere Zeilenbauten – den durchgrünten Charakter der ehemaligen Landstraße aufgriff. Geschäftshäuser wie das Nordsternhaus (Friedrich-Ebert-Straße/Karthäuser Straße) reagierten geschickt auf die jeweilige städtebauliche Situation; und selbst untergeordnete Zweckbauten wie Tankstellen, Trafo- oder Toilettenhäuschen konnten gestalterisch behandelt sein. Die Qualität der Architektur wurde zudem von vielen kunstvoll gearbeiteten Details ausgemacht: z. B. Sgraffiti, individuelle Türbeschläge und -griffe, Werbeschriftzüge, Leuchten, geschwungene Innentreppen, Brunnen; Raumfolgen wurden sorgsam aufeinander abgestimmt, wie durch Arnold Bode im Ständehaus.
Die nachfolgenden Jahrzehnte brachten neben fortgesetzten Abbrüchen eine Rückbesinnung zunächst auf die Bauten des Historismus und des Jugendstils, dann auch auf die Qualitäten der 50er-Jahre. Und nicht nur gartenstadtähnliche Wohngebiete der 20er-Jahren wurden um 1980 durch einfache B-Pläne ausdrücklich in ihrem Charakter geschützt, indem sich Neubauten – über die Vorgaben von GRZ und GFZ, Geschosszahl und Nutzungsart hinaus
– in die Eigenart der Umgebung einfügen sollen. Jüngere Projekte wie die Wiedergründung der Unterneustadt und die Konversion mehrerer Kasernen können in diesem Rahmen nur noch gestreift werden.
Wir sind am Ende unseres kurzen Überblicks über die historische Kasseler Baukultur angekommen, der in vielem nur oberflächlich und ausschnitthaft bleiben konnte. Auch wenn sich stilistische Mittel und Auffassungen mehrfach wandelten, so werden doch wiederkehrende Qualitätsmerkmale deutlich, die eine umfassende, bewusste Gestaltung der baulichen Umwelt bedeuten – als Gesamtheit von Städtebau, Architektur und ggf. Landschafts- bzw. Freiflächenplanung. Eine entscheidende Frage war immer wieder, wie Stadträume, Ensembles und Gebäude wirken – für sich und im Kontext – und wie diese Wirkung verbessert werden kann; erschwerende Bedingungen wie besondere Funktionen, unebenes Gelände oder die sensible Einfügung in bestehende Strukturen (etwa als Verbindung zweier unterschiedlicher Stadtteile) haben dabei oft die besten und interessantesten Lösungen hervorgebracht. Baukonstruktion und technische Aspekte sind ebenso gestaltungswirksam wie Details und Farbfassungen. Und nicht zuletzt gehört zur Baukultur auch die Vermittlung durch Publikationen, Lehre, Vorträge oder Beratung.
Zusammenhänge der heutigen Stadt werden erst durch die Bau- und Stadtbaugeschichte verständlich. Vor allem aber zeigt die historische Entwicklung, welche Bandbreite an Möglichkeiten es gibt, die gebaute Umwelt zu gestalten
– und macht damit zugleich deutlich, welche Folgen unbedachte Eingriffe in Gebäude und in das Stadtgefüge haben können. Insgesamt ermöglichen die verschiedenen Ansätze historischer Baukultur, das Gefühl für Raumwirkungen zu schärfen, Qualitäten zu beurteilen und schätzen zu lernen, Mängel zu benennen und zu analysieren. In diesem Sinne mögen die umfassenden Qualitäten historischen Bauens – unabhängig von den stilistischen und modischen Entwicklungen – Anregung und Ansporn für die aktuelle und künftige Baukultur sein.
Autor: Christian Presche