»Alternativlos« – eine Erklärungs- und Beruhigungsfloskel der »großen Politik« der letzten Jahre, der viele von uns aus Bequemlichkeit oder Überzeugung gefolgt oder aufgesessen sind. Denn gerade jetzt zeigt sich, dass der Verzicht auf die rechtzeitige Suche nach ernsthaften Alternativen zur Lösung von Problemen, die keineswegs plötzlich vom Himmel gefallen sind, die politischen Krisen (Finanzmärkte, Griechenland, Flüchtlinge, Europa) erst so richtig befeuert hat.
Was für das Große gilt, hat auch in der Stadtentwicklung mit all ihren Aspekten, wie z. B.: Wohnungsversorgung, Infrastrukturentwicklung, Baukultur, Brachen- und Standortentwicklung, Denkmalpflege, Klimaschutz etc., seine Gültigkeit. Selten gibt es für anstehende Aufgaben in diesen Bereichen nur eine einzige, zwingende Lösung. Das trifft am ehesten für den gesamten Bereich der Bauunterhaltung, oft verbunden mit Modernisierung und Standardanpassung, in einigen Fällen auch mit aktiver Denkmalpflege, zu. In dieser Magazinausgabe mögen dafür die Beiträge zum Ballhaus, zum Landesmuseum und zum Kongresszentrum stehen.
Alternativlos ist natürlich auch die Pflege und Weiterentwicklung einer lokalen und regionalen Akteursszene, die anspruchsvolle Aufgaben auf hohem handwerklichen, planerischen, entwurflichen Niveau angehen und bewältigen kann. Die exemplarischen Beiträge zu Architektur- und Planungsbüros und zu Handwerksfirmen in dieser Ausgabe von Oktogon stehen genau dafür. Wenn ich in diesem Zusammenhang das Büro ANP besonders hervorhebe, so hat das seinen Grund: Die Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung von baulichen und städtebaulichen Wettbewerben und anderen qualifizierten Auswahlverfahren sind ein Markenzeichen dieses Büros. Und mit Barbara Ettinger-Brinkmann, der amtierenden Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, beherbergt Kassel die oberste Wächterin für das Suchen nach der jeweils besten Lösung (städte-)baulicher Aufgaben durch das Generieren von Entwurfs- und Planungsalternativen.
Nicht nur sie weist zu Recht immer wieder auf verpasste Gelegenheiten hin, prominente Bau-und Städtebauaufgaben ohne vorgeschaltete Auswahlverfahren auf den Weg zu bringen. Das ist besonders ärgerlich, wenn es sich dabei um die Verwertung von Grundstücken in öffentlichem Besitz handelt. Das Projekt der Nachfolgebebauung des ehemaligen Hallenbad Mitte mag dafür stehen, auch wenn das gerade sichtbar werdende Ergebnis ein durchaus ansehnliches Stück neuer Stadtarchitektur zu werden verspricht. Die Kritik muss hier schon vor dem Bauprozess ansetzen: Statt dieses Schlüsselgrundstück in Eigenregie, z. B. mithilfe einer längst überfälligen eigenen Stadtentwicklungsgesellschaft, einer neuen Nutzung und Gestaltung zuzuführen, wurde hier von der Stadt (konkret: dem Liegenschafts- und Beteiligungsdezernat) der Weg des Verkaufs an einen externen Projektentwickler gewählt. Dass dieser nach seinen eigenen Spielregeln agiert, was ihm nicht vorzuwerfen ist, und z. B. Teile des Nutzungsprogramms (Wohnanteil), auf das sich die Stadtplanung lange festgelegt hatte, nicht realisiert hat, ist mindestens ärgerlich.
Bei der künftigen Nutzung des Areals nördlich des Kulturbahnhofs durch die Fraunhofer-Gesellschaft hat die Stadt dagegen richtigerweise das Gesetz des Handelns selbst in der Hand behalten. Sich auf externe Investoren zu verlassen, sich ihnen damit weitgehend auszuliefern und so die eine oder andere schmerzliche Niederlage einzustecken (z. B. Salzmanngelände in Bettenhausen) muss Anlass zu einer Korrektur der lokalen Stadtentwicklungspolitik sein – auch wenn die Stadt damit im Einzelfall ein begrenztes Risiko eingehen muss.
Begrenzt ist das aus meiner Sicht dadurch, dass Kassel seit einigen Jahren als eine dynamische Stadt in Deutschland gilt. Und: Will sich Kassel wirklich hinter Bad Hersfeld, Marburg und anderen hessischen Mittelstädten verstecken, die bei vergleichbar maroden kommunalen Finanzen seit Jahren wichtige Vorhaben der Stadtentwicklung mit eigenen Gesellschaften schultern?
Nur zur Erinnerung: Die Wiedergründung der Unterneustadt und die Umwandlung der Militärstandorte entlang der Druseltalstraße wäre ohne die extra dafür (zusammen mit Partnern) gegründete »Projektentwicklungsgesellschaft Unterneustadt und Kasernenkonversion« sicher nicht gelungen. Kassel muss sich also nur auf eigene wertvolle Erfahrungen besinnen und diese zeitgemäß weiterentwickeln.
Übrigens: Dass sich Kassel – für viele überraschend – so weit im Städteranking nach vorne arbeiten konnte, ist nicht zuletzt dem quantitativen und qualitativen Wachstum der Universität und ihrem Hineinwirken in die kommunale und regionale Wirtschaft und Gesellschaft zu verdanken. In den gut vier Jahrzehnten seit ihrer Gründung, zunächst als experimentell angelegte Gesamthochschule, hat die Suche nach dem besten Weg immer eine wichtige Rolle gespielt. Dafür war das Denken in Alternativen und Szenarien eine entscheidende Methode. Auch das ging nicht ohne Meinungsstreit und den einen oder anderen Umweg ab. Letztlich gibt der Erfolg dieser Praxis recht.
Alternativen zu anstehenden Problemlösungen muss die Stadtgesellschaft aktiv einfordern, sie darf sich nicht zurücklehnen oder einlullen lassen. Das ist im »Bäderstreit« z. B. gelungen. Der öffentliche Meinungsstreit um die Zukunftsgestaltung mittels der Suche nach und der Präsentation von Alternativen ist eines: alternativlos.
Kolumne: Christian Kopetzki