Der Zufall ließ den international renommierten Bildhauer Stephan Balkenhol vor vier Jahren ein Grundstück in Kassels Nordstadt entdecken und mithilfe des Kasseler Büros punkt4 Architekten entstand dort – perfekt in die Umgebung eingebunden – sein neues Atelier, das den Anforderungen und Bedürfnissen des Künstlers gewollt unprätentiös, dafür jedoch umso präziser gerecht wird und den Stadtteil kulturell bereichert.
Helmut Schmidt brachte es einst auf den Punkt: »Willen braucht man. Und Zigaretten.« Eben diese Kombination führte auch das in Kassel ansässige Architekturbüro punkt4 Architekten und den international renommierten Künstler Stephan Balkenhol zusammen. Nach einer Veranstaltung im Kasseler Kunstverein standen Architekt Markus Hanisch und der Bildhauer auf den Treppenstufen des Fridericianums zusammen und rauchten eine Zigarette. Dabei sei an ins Gespräch gekommen und damit bald auf Balkenhols Pläne, seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Kassel zu verlagern und dafür ein neues Atelier zu bauen. Das für den Neubau erforderliche Grundstück hatte Balkenhol bereits kurz zuvor gekauft – gelegen in der Kasseler Nordstadt, zwischen altem Unterstadtbahnhof und Mombachstraße. Hanisch: »Der Ort ist ein Schnittpunkt verschiedener städtebaulicher Realitäten. Es gibt die Kirche mit dem parkähnlichen Friedhof, die industrielle Vergangenheit mit den Klinkerbauten, den wachsenden Campus der Universität und die internationalen Neighbourhoods rund um die Holländische Straße.« Trotz dieser Vielzahl an architektonischen Eindrücken und Belangen um das Grundstück herum »stellte sich heraus, dass wir ganz ähnliche Vorstellungen haben, was Architektur betrifft«, sagt Hanisch. »Auch Stephan geht es um eine Architektur, die ihre Schönheit über Funktionalität entwickelt, also großzügig und klar geformt ist.«
Nach inhaltlichen Diskussionen kristallisierte sich ein zweistöckiges kubisches Gebäude heraus, das sich um zwei Innenhöfe gruppiert. Die Aufteilung der Gebäudekuben erinnert an die Gliederung einer dreischiffigen Kirche. So wird das gläserne Hauptschiff aus den acht Meter hohen Atelierräumen des Holzateliers und des Tonateliers gebildet. Beide Räume haben direkten Zugang zum innen liegenden Atrium und sind darüber hinaus durch große Tore von außen zugänglich. Zur Mombachstraße hin liegt das Nebenschiff mit Maschinenräumen, Zeichenraum und Lager. Eine Werkstatt für Metallverarbeitung, Technikräume und ein Lager für kostbare Farbpigmente finden sich im rückwärtigen Seitenschiff. Auch auf der oberen Ebene fassen ein hier angesiedelter Büro- und Besprechungsraum sowie eine Küche einen Innenhof ein.
Die Zweistöckigkeit des Gebäudes erwächst aus den Erfordernissen eines hohen Atelierraumes sowie aus dem klugen Umgang mit dem Hanggrundstück. »Die Einbindung des Gebäudes in die Landschaft haben wir durch eine 50 Meter lange Böschungsmauer in einen oberen Büro- und Gartenbereich und einen unteren Arbeitsbereich geteilt«, so der Architekt. Die obere Ebene befindet sich rückseitig dieser Trennwand. Für die entwurfsbestimmende Böschungsmauer wurde im Inneren wie auch außerhalb des Gebäudes das gleiche dunkle Klinkermaterial verwendet. Dies erzeugt den Eindruck, die Mauer laufe durch das Gebäude hindurch. Entlang der Mauer schließt sich eine Galerie an, von der aus der Büro- und Besprechungsraum sowie die Küche erreicht werden. Zugleich ermöglicht die Offenheit der Galerie, von einem erhöhten Standpunkt aus in die Atelierräume zu blicken. Diese Situation schätzt der Künstler sehr, denn »beim Bearbeiten von Skulpturen ist immer der Betrachtungsabstand entscheidend. Hervorragend ist es, wenn man zudem die Möglichkeit hat, dafür unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und Raum und Objekt in geänderten Lichtsituationen wahrnehmen zu können.« Denn nicht nur den räumlichen Proportionen haben Künstler und Architekt viel Aufmerksamkeit gewidmet, auch das Anlegen von Blickachsen und der Umgang mit Licht waren Ergebnis intensiver Gespräche. »Gerade durch den Höhenversprung gibt es spannende Sichtbeziehungen, die für die Arbeit des Bildhauers ganz wichtig sind«, sagt der Architekt. Um ein konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen, wird in den Ateliers auf direkte Sicht nach außen verzichtet.
Durch die Verwendung einer umlaufenden doppelwandigen Profilglasfassade mit Glasgespinsteinlage und nach Norden ausgerichtete Sheddächer ergibt sich eine helle, natürliche und blendfreie Lichtsituation. Die Sheddachkonstruktion wird auf der Südseite zudem für Photovoltaikelemente genutzt. Durch das Zuschalten von LED-Beleuchtung im Tageslichtspektrum ist ein präzises Arbeiten mit Farben und Fotografie möglich. Neben der Beleuchtung nimmt die massive Deckenkonstruktion auch die übrigen technisch notwendigen Einbauten auf – eine fahrbare Krananlage ist von der Decke abgehängt, Deckenstrahlplatten sorgen, je nach Außenklima, für Kühlung oder Beheizung. Das Gebäude kann komplett mit Holz beheizt werden. Es gibt einen Feststoffbrennkessel für die großen Werkstattflächen und einen Kaminofen mit großen Glasfenstern für eine angenehme Atmosphäre im Aufenthaltsbereich. Als Brennstoff dienen die Holzabfälle aus der Skulpturenproduktion.
Das Gebäudeensemble bezieht sich bewusst auf die industrielle Vergangenheit der Umgebung. Besonderen Wert legten die Architekten auf die Fügung der unterschiedlichen Materialien – zum Beispiel die präzise Fuge zwischen der grafisch wirkenden Profilglasfassade und dem langformatigen, gesinterten Klinkersteinsockel.
Die aus der Topografie erwachsene Hangsituation wurde terrassenartig mit Sitzstufen angelegt und kann bei Bedarf für Open-Air-Veranstaltungen genutzt werden. Darüber hinaus haben punkt4 Architekten »möglichst viel vom Baumbestand erhalten, etwa die schöne Kastanie an der Mombachstraße, aber auch die Robinienhaine an der Rückseite des Gebäudes«, so der Architekt. Bei der Freiraumgestaltung gibt es eine enge Kooperation mit dem Gartenarchitekten Wolfgang Schück. Zwischen Küche und Besprechungsraum befindet sich eine nach Süden ausgerichtete Terrasse, dahinter erstreckt sich ein Küchengarten mit einer Wasserzapfstelle. Ein Weg trennt den kultivierten Arbeitsbereich von einer dahinter liegenden natürlichen Blumenwiese. Vom Westring her soll das Gelände dadurch sichtgeschützt sein, gleichzeitig bleibt ein freier Blick auf den Habichtswald und die Industrieanlagen erhalten.
Balkenhol hatte schon in seiner Jugend in Kassel gelebt und sein Abitur am Friedrichsgymnasium absolviert. Vor einigen Jahren lernte er in Kassel seine Ehefrau Kathrin kennen, mit der er mittlerweile eine Familie gegründet hat – Grund genug, um sich wieder in Kassel niederzulassen: »Allein durch meine Frau, die hier als Kuratorin und Studienrätin arbeitet, war schnell klar, dass Kassel für mich zum neuen Lebensmittelpunkt wird«, berichtet Balkenhol. »Die Kinder wachsen hier auf, aber trotzdem werden wir noch vagabundieren und immer wieder einige Zeit in Karlsruhe und Frankreich verbringen.« Insbesondere das Atelier im lothringischen Meisenthal (697 Einwohner) sei ihnen so sehr ans Herz gewachsen, dass es nicht aufgegeben werden soll. Wie sehr sich der Künstler dort bereits ins dörfliche Leben und die damit verbundene französische Kultur integriert hat, verrät nicht zuletzt der von ihm selbst gebrannte Apfelschnaps, den er auch seinen Gästen gern anbietet. »Wenn man dort eine Obstwiese hat, kann man Mitglied im Obstbauverein werden und erwirbt damit zugleich das Recht, Schnaps zu brennen – mit ausgeliehener Destille in der eigenen Garage«, verrät der Künstler, der an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg bei Ulrich Rückriem studierte.
Anders als sein Professor – Teilnehmer der documenta-Ausstellungen 5, 7, 8 und 9 – war Balkenhol bislang kein offizieller documenta-Künstler. Dennoch kann er mit sehr speziellen Erfahrungen in Bezug auf die Weltkunstausstellung aufwarten. »Harry Szeemanns documenta 5 von 1972 war die erste documenta, die ich selbst erlebt habe«, erinnert sich der Künstler, damals 15 Jahre alt, »und das fast jeden Tag, da mein Bruder damals an der Kasse Kataloge verkauft hat und mich immer umsonst hinein ließ.« Auch seine »erste Lohnarbeit« habe er dort verrichtet – in der Abteilung »Individuelle Mythologien« des Fridericianums: »Da war ein Raum unterm Dach mit einem Kühlschrank, in dem sich große Schmetterlinge befanden. Meine Aufgabe war es, den Besuchern zu sagen, dass sie dort zwar reingucken dürfen, aber den Kühlschrank gleich wieder schließen müssen.« Der Künstler lacht: »Und nebenan war ein Meditationsraum mit Teppichboden und esoterischen Klängen, da musste ich aufpassen, dass auch alle ihre Schuhe ausziehen.«
Parallel zur documenta 13 hatte Balkenhol auf dem Turm der am Friedrichsplatz gelegenen St. Elisabeth-Kirche eine Skulptur installiert, die ihn in Konfrontation mit documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev brachte. »Meine Figur – ein auf einer Kugel balancierender Mann – war ihr zu präsent, zu rätselhaft, das wollte sie auf keinen Fall«, so Balkenhol. »Denn heutzutage muss ja alles erklärbar sein und es darf keine offenen Fragen mehr geben, kein Geheimnis. Wobei das doch eigentlich das Grundprinzip von Kunst ist: Dass man etwas formuliert, ohne gleich alles zu offenbaren, mithin noch Spielraum für den Betrachter lässt.«
In Zukunft werden Skulpturen wie diese vorwiegend in Kassel entstehen. »Theoretisch könnten meine Figuren hier bis zu sieben Meter hoch werden, das gibt die Raumhöhe des Ateliers her. Doch dafür müsste ich dann auch mit Stämmen von etwa drei Metern Durchmesser arbeiten, denn sonst würde es schon mit der Schulterbreite der Figuren nicht mehr stimmen.« Auch die Figuren in Ton oder Gips – als Vorstufe für den Bronzeguss, den der Bildhauer für große Arbeiten im öffentlichen Raum einsetzt – können hier in ähnlichen Abmessungen gefertigt werden. »Von der Infrastruktur her war das bislang am besten in Karlsruhe machbar«, sagt Balkenhol, »doch nun ist das Kasseler Atelier für beide Bereiche am besten ausgestattet.«
Fotos von Andreas Berthel, Martin López Sanz, Harry Soremski