Das Schillerviertel ist Kunst. Ist Leben, ist Arbeit. Ein Kreativviertel? Eindeutig. Mit Ateliers, Büros und Studios. Vom Hidden-Champion zum Entrepreneur. Hier werden in Lofts Karrieren geschmiedet. KreativFabrik, Fabrik Chasalla, BrandtFabrik: Arbeit als Klammer, die Design, Schönheit und Kunst umfasst. Das Schillerviertel – ein Stadtteil entwickelt seine ganz eigene Kiezkultur.
Alles ist Arbeit
Ist es nun die »plan- und zweckmäßige Tätigkeit von Personen«, der »Prozess einer bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und der Gesellschaft«, oder doch nur die »Energiemenge, die bei einem Vorgang umgesetzt wird«? Arbeit hat stets viele Gesichter und Definitionen – genau das erkennt man in Kassels Schillerviertel. Wer aufmerksam den Bereich zwischen Wolfhager Straße, Erzberger Straße und Rothenditmolder Straße erkundet, der sieht die Arbeit, wohin er auch blickt. Am Tag etwa beim KFZ-Lackierer wie auch in klassischen Handwerksbetrieben wie Baustoff Dietrich – das älteste Unternehmen im Quartier –, Elektro-Brückmann oder Heizung und Sanitär Schnelle. In der Nacht schließlich zeigt die Wolfhager Straße ihr zweites Gesicht – Sexarbeit im Rotlicht-Milieu. Und apropos Arbeit: Die Agentur für Arbeit in einem der dominierenden Zweckbauten des Viertels kann überhaupt nicht ohne Arbeit existieren. Und im Viertel wird auch an der Zukunft der Arbeit gebaut: Paul-Julius-von-Reuter-Schule, Walter-Hecker-Schule, Arnold-Bode-Schule und das Berufsbildungswerk Nordhessen – kaum ein anderer Stadtteil besitzt eine solche komprimierte Schullandschaft.
Hinschauen lohnt
Und das ist schon alles? Keineswegs. Das sich entwickelnde Schillerviertel offenbart seine vielen Qualitäten erst auf den zweiten Blick – es will erobert werden. Hinter den oftmals noch tristen Fassaden kommen überraschende Unternehmen zum Vorschein. So werden psychisch Erkrankte vom »Vitos Reha«-Team um Dr. med. Sabine Kreß und insgesamt 17 Angestellten in der Erzberger Straße betreut.
Und letztlich haben sich im »Hinterhof« der City, der seinen dreckigen Rüpeljahren mittlerweile nahezu entwachsen ist, Kunst und Kultur breitgemacht. Dustin Schenk von »Kolor Cubes« hat sich zur Aufgabe gemacht, Kassels Wände zum Strahlen, zum Sprechen zu bringen. Seine Idee, Streetart in Kassel populär zu machen, hat an vielen Stellen im Kiez zu sehenswerter Graffiti-Kunst geführt. Besonders eindrucksvoll, wenn Künstlerinnen und Künstler von der Qualität einer Pau Quintanajornet in der Wolfhager Straße wirken. »Mehr davon. Viel mehr«, denkt der geneigte Betrachter. Dann noch die Existenzgründer, Start-ups und Entrepreneure – viele Begriffe, ein Anliegen: Das Neue entdecken, Grenzen überwinden, das Risiko nicht scheuen. Genau dafür braucht es das passende Umfeld. Eines, das nicht in tradierten Normen denkt, sondern wo sich Gegensätze befruchten. Genau deshalb ist das Schillerviertel für die klügsten und kreativsten Köpfe eine einzigartige Spielwiese.
Neu und unverbraucht
Wenn in Unternehmen wie 3DIMETIK die reale Welt in allen Dimensionen vermessen wird oder durch eine Innovation von »Kennwert« Beton energieerzeugend oder lichtreflektierend eingesetzt werden kann, dann finden solche Unternehmen hier beste Bedingungen; denn Platz ist es, der gebraucht wird.
Räume zum Sich-Ausprobieren, zu bezahlbaren Mietpreisen, und mit eben diesem besonderen Kiez-Flair. Das Thema Umwidmung spielt hierbei eine entscheidende Rolle, denn die angebotenen Räumlichkeiten entspringen allesamt ehemaligen Industriegebäuden: Die Kreativfabrik entwickelte sich aus der ehemaligen Ofenrohrfabrik Eduard Klein und die Fabrik Chasalla mit ihren Ateliers, Büros und Studios hat eine Schuhfabrik und eine Diskothek in der Historie – um nur einige zu nennen.
Arbeit für den Bürger
Auch das ist das Schillerviertel – mit der Feuerwache 1 verfügt die Berufsfeuerwehr Kassel in der Wolfhager Straße über einen zentralen und hochmodernen Standort, von dem aus jeder Punkt in Kassel schnell erreicht werden kann. Stichwort »zentral«: Sicher auch ein Grund, warum das Polizeipräsidium Nordhessen am Grünen Weg seinen Standort gefunden hat. Und auch der Arbeiter-Samariter-Bund zeigt in der Erzberger Straße Flagge. Wenn dann noch in Kürze ein so bedeutendes Institut wie das Forschungslaboratorium für erneuerbare Energien des Fraunhofer-Instituts für Windenergiesysteme IWES seine Pforten am Eingang des Schillerviertels öffnet und unsere gesamte Gesellschaft von dessen Innovationen profitiert, dann rückt Kassels zentrales Kiez noch stärker in den Fokus der Allgemeinheit.
Besonderes im Besonderen
Noch nicht genug? Noch immer auf der Suche nach dem ganz speziellen »Schiller-Viertel-Kick«? Dann zeigen die »Fliegenden Köche« um Christoph Brandt in ihrem Fliegenden Headquarter im Kiez, wie man aus hochwertigen Lebensmitteln unwiderstehliche Kreationen zaubert.
Und wo wurde die erste Videothek der Welt gegründet? New York? Nein, 1975 in Kassel. Im Schiller-Viertel. Der Film Shop in der Erzberger Straße war das Ziel der Film-Enthusiasten und Gründer Eckhard Baum wohl damals eine Art medialer Messias.
Nun sind die Zeiten der Filmleihe eindeutig vorüber, doch der Verein Randfilm hat die Räumlichkeiten übernommen und trägt Baums Erbe in die Streaming-Zeit hinüber. Das Versprechen des Vereins: »Randfilm ist ein Verein zur Förderung der abseitigen Film- und Kinokultur. Randfilm gibt dem Vergessenen, Verdrängten, Zensierten und Übersehenen ein Forum.« So ist ein weiteres Highlight für die gesamte freie Kasseler Kulturszene und für das Schiller-Viertel im Speziellen entstanden. Wer dann ermüdet ob der Vielfalt des Schiller-Viertels ist, der findet dort auch eine adäquate Bleibe.
Der ermattete Reisende wird auf der Suche nach dem Speziellen und Einzigartigen im Foto-Motel »fensterzumhof « fündig. Mit viel Liebe zum Detail ausgestattete Appartements bilden eine Parallelwelt zum Rotlichtmilieu, die dessen rauen Charme aber aufnimmt und interpretiert. Einen ganz individuellen und vollkommen kommerzfreien öffentlichen Raum bilden die Kasseler »Kunstsäulen mit Konus«, die sich im Schiller-Viertel breitmachen. Von den Künstlern Elfi und Pitze Eckart initiiert, gestaltet eine Vielzahl an Künstlern ihre jeweiligen Säulen nach eigenen Vorstellungen. Noch ein Grund von vielen, die Augen im Schiller-Viertel aufzuhalten und immer einen Blick hinter die Fassaden zu werfen.
Der Verein SchillerViertel
Eine solche Menge an Vielfalt braucht immer auch jemanden, der sich engagiert. Der Dinge ins Rollen bringt und den Dialog sucht. Der Verein »SchillerViertel e.V.« ist die treibende Kraft im Kiez. Gegründet von im Quartier ansässigen Gewerbetreibenden, Kulturförderern und Künstlerinnen und Künstlern, werden hier verschiedenartigste Interessen gebündelt. So sollen die Lebensqualität im Kiez gesteigert werden, der kulturelle Austausch belebt und über Veranstaltungen und Feste sowohl das Viertel nach außen geöffnet wie auch die innere Verbindung der dort lebenden und arbeitenden Menschen gestärkt werden. Sich kennenlernen, gegenseitig inspirieren, verstehen und sich vernetzen – wichtige Faktoren für die Entwicklung des Schillerviertels. Als Quelle der Weiterentwicklung des Quartiers wird im Verein auch die spezielle Lage gesehen. Mit dem Fraunhofer Institut IWES und der Universität Kassel, als Leuchttürme an das Kiez angrenzend, sind die Themen Forschung und Entwicklung permanent präsent.
Und wenn die städtebauliche Entwicklung des ehemaligen Unterstadtbahnhofs voranschreitet, wird das Viertel noch vielfältiger. Das übrigens sieht man auch bei den politischen Repräsentanten der Stadt Kassel so. Denn klar ist, dass die Stadt zwar den Rahmen für eine Entwicklung vorgeben kann und muss, der Prozess selbst aber dann von den dort ansässigen Menschen und Unternehmen vorangetrieben wird; daher finden sich immer auch Unterstützer der vielfältigen Projekte des Viertels im Rathaus. Der Gestaltungsprozess hat gerade erst begonnen für den Verein um die Vorsitzende Regina Schulenburg.
Autor: Roman Völker