An die Baukultur des späten 17. und 18. Jahrhunderts erinnern in der Kasseler Innenstadt nur noch wenige Zeugnisse. Eine besonders stadtbildprägende Fassade besitzt dabei das Modehaus Köhler an der Ecke Obere Königsstraße/Opernplatz (Neubau 1968). Die Architektursprache des 1772–74 erbauten Ursprungsbaues ist beispielhaft für die Oberneustadt, die seinerzeit als Kasseler Sehenswürdigkeit galt.
Bau des Hauses – Anlass und Bauherr
Das Haus Königsstraße 37 ist eng mit der Entwicklungsgeschichte der Oberneustadt verbunden. Zwischen 1688 und ca. 1730 war zunächst ein Gebiet zwischen Auehang, Friedrichsstraße und heutigem Friedrichsplatz bebaut worden, mit der Königsstraße im Nordwesten. Diese Neugründung lag zunächst vor den massiven Festungswerken der alten Kernstadt, bis 1767 Landgraf Friedrich II. begann, die Wälle, Bastionen, Ravelins und Gräben schleifen zu lassen; um die beiden Städte miteinander zu verbinden, wurden Friedrichs- und Königsplatz angelegt. Den südlichen Auftakt dieser jüngeren Stadterweiterung bildete nun jenes Eckhaus Königsstraße 37.
Bauherr war der Kasseler Großkaufmann und Kommerzien-Assessor Jacques Roux, und nach längeren Vorbereitungen konnte der Neubau in den Jahren 1772–74 ausgeführt werden. Roux hatte zuvor bereits den Steinbau Marktgasse 15/Graben errichten lassen, mitten im alten Kasseler Geschäftszentrum; das neue Anwesen an der Königsstraße hingegen lag nicht nur im vornehmeren Stadterweiterungsgebiet, sondern es war auch um ein Vielfaches größer. Als Baumeister beider Häuser gilt Simon Louis du Ry, der im Hofbauamt federführend an der neuen Stadterweiterung beteiligt war.
Die städtebauliche Einbindung

Hofseite; am Risalit mit dem Haupttreppenhaus sind noch die
originalen Fenster der Bauzeit zu erkennen.
In Volumen und Bauformen konzipierte du Ry den Neubau als Pendant zum gegenüberliegenden Eckhaus Königsstraße 33 – einem Palais, das um 1727 erbaut und 1766–69 zum Opernhaus erweitert worden war (das Grundstück wird heute von einem Teil der Galeria Kaufhof und der Opernstraße eingenommen). Du Ry übernahm sogar das barocke Mansarddach, das im neuen Stadterweiterungsgebiet ansonsten kaum mehr zur Anwendung kam, das im älteren Abschnitt der Königsstraße aber auf der gesamten Nordwestseite vorherrschte. Damit wurde nun ein doppelter Zweck erfüllt: Zum einen fiel der Blick jenseits des Opernplatzes auf ein Haus, das dem Auge einen angemessenen Halt bieten konnte – indem es die ältere Häuserzeile mindestens gleichwertig in Größe, Umriss und Formen fortsetzte. Vor allem aber wurde der neu geschaffene Opernplatz in den Grundzügen symmetrisch eingerahmt, ohne dass die beiden Gebäude sich indessen im Detail entsprachen. Den mittleren Abschluss des Platzes bildete das 1772 begonnene Palais Waitz von Eschen, das erst nachträglich in den Plan aufgenommen wurde; damit erhielt der Opernplatz zugleich den Charakter eines Ehrenhofs.
Während der bauliche Maßstab des Rouxschen Hauses zwar für den Opernplatz notwendig war, konnte er jedoch auf die angrenzende Häuserzeile der Königsstraße nicht übertragen werden: Zum einen mangelte es an ähnlich finanzkräftigen Bauherren, zum anderen galt es, den angrenzenden Friedrichsplatz zu berücksichtigen. So ergab ein starkes Gefälle ohnehin schon das Problem, dass das Museum als Hauptbau des Platzes viel tiefer lag als die Königsstraße. Sollten die Bauten der Museumsseite also nicht unangemessen überragt werden, so musste man die Königsstraßenzeile in ihrer Höhe begrenzen. Neben dem großen Rouxschen Haus ließ du Ry nun drei Häuser mit einfachen Satteldächern folgen, die das Motiv des fünfachsigen Mittelrisalits übernahmen, nun aber bereits über dem 2. OG mit einem Giebel abschlossen. Das mittlere dieser drei Häuser (Königsstraße 41, Künstlerfamilie Nahl), das bis zur nördlichen Platzecke reichte, war beiderseits des Risalits sogar auf zwei Geschosse reduziert (mit Schmuckgiebeln an den Enden) und ließ damit den gegenüberliegenden Flankenbau der Museumsseite (heute SinnLeffers) besser zur Geltung kommen; innerhalb der Straßenzeile konnte sich das niedrigere Nahlsche Haus gleichwohl durch seine große Breite und den reicheren Fassadenschmuck gut behaupten. Auf diese Weise entstand in der Straßenperspektive eine durchgeplante niedrigere Häuserfront, in der das größere Rouxsche Haus keineswegs einen Fremdkörper darstellte, sondern als Kopfbau schlüssig integriert war.

Modell des Friedrichsplatzes; von links nach rechts: Opernhaus, Palais Waitz von Eschen, Rouxsches Haus, Koppsches Haus, Nahlsches Haus (Königsstraße 41).
Die Architekturformen
Die Architekturformen stehen ganz in der Bautradition der Oberneustadt. So waren alle Häuser seit 1688 als Massivbauten mit regelmäßig angeordneten hochrechteckigen Fenstern ausgeführt, weiß verputzt, mit farbigen Architekturteilen: Gebäudesockel, Fensterumrahmungen (Faschen), Portale, Gesimse, Ecklisenen und Balkone waren meist ockerfarben, bisweilen auch grau abgesetzt. Der gesamte Stadtteil war somit zu einer einzigen, weißen Gesamtheit zusammengeschlossen, die durch die farbigen Akzente belebt und rhythmisiert wurde. Während die Faschen an den frühesten Häusern um 1690 aus Kostengründen nur aufgemalt gewesen waren, hob man sie bei vielen späteren Bauten zusätzlich auch plastisch hervor. Die Gebäudesockel hatten dabei nicht nur ästhetische Funktion, sondern sie schufen auch eine wichtige Basis für den Entwurf: Denn die Maße und Größenverhältnisse wurden in der Regel sorgsam gewählt, aber das Straßenniveau bot sich wegen seines Gefälles meist nicht als Bezugshöhe an; diese Funktion übernahm nun die jeweilige Sockeloberkante, von der ausgehend die Höhen und sonstigen Maße berechnet und aufeinander abgestimmt werden konnten. Die Zwerchhäuser oder -giebel boten nicht nur einen Witterungsschutz für die Hauseingänge (denn es gab noch keine Regenrinnen, sodass man unter der Dachtraufe besonders nass wurde); sondern sie rhythmisierten auch die langen Häuserzeilen und trugen durch die wiederholte Höhensteigerung zu einem repräsentativeren Gesamtbild bei. Ein Gurtgesims über dem EG sorgte bei einigen größeren Bauten für eine zusätzliche Gliederung der Fassaden. Balkone waren in der Oberneustadt selten und auf einige wenige repräsentative Häuser bzw. markante Standorte beschränkt. Am Rouxschen Haus zeugen das geschmiedete Balkongitter und die steinernen Konsolen mit ihrem Aufwand umso mehr vom besonderen Wohlstand des Bauherrn. Auf diese Weise wurden die Häuser nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch ihre Einzelheiten differenziert; dies erfolgte aber in einer derart subtilen Weise und als Teil eines städtebaulichen Konzeptes, dass die reicheren Häuser ihre Nachbarn nicht übertrumpften und das harmonische Gesamtbild nicht gestört wurde. Die Parzellen wurden dabei von vornherein derart zugeschnitten, dass an besonders wichtigen und wirkungsvollen Standorten auch die größeren, aufwendigeren Bauten zu stehen kamen. Dass die Hofseiten der Ober-neustadt-Häuser nur wenig hinter den Formen der Straßenseiten zurückblieben, spricht für die ganzheitliche Behandlung der einzelnen Entwürfe – man denke dagegen etwa an die schmucklosen Backsteinmauern der Hofseiten des späten 19. Jahrhunderts.
Das Erscheinungsbild der heutigen Fassaden von Königsstraße 37 (Neubau 1968) ist durch die Tieferlegung des Erdgeschosses zwar nachteilig verändert, doch könnte dies mit einfachen Mitteln ausgeglichen werden: durch eine Andeutung der wichtigen Sockelzone zwischen den Öffnungen und durch eine Verlängerung der Faschen bis in die originale Höhe, unter Einschließung der Werbeaufschriften.

Der Opernlatz vor 1897 mit Seitenfront und Seitenflügel des Rouxschen Hauses; links angeschnitten das Palais Waitz von Eschen.
Die Funktionalität
Der Neubau des Rouxschen Hauses entsprach offensichtlich den praktischen Bedürfnissen des Großkaufmanns: Während sich der geschäftige Warenumschlag im hinteren Teil des Hauses abspielte, lagen die wichtigsten Räume im Hauptflügel an der Königsstraße. Betrat man das Haus durch den Haupteingang, gelangte man zu einer repräsentativen, dreiläufigen Holztreppe. Im Obergeschoss erreichte man einen ovalen Vorsaal, danach ein schmales Vorzimmer (hinter der Balkontür) und schließlich einen großen Salon, der sich bis zum Opernplatz erstreckte. Über die nähere Bestimmung der übrigen Räume ist bislang allerdings nichts bekannt; unklar ist bisher auch, ob das Haus allein vom Hauseigentümer und seiner Familie genutzt wurde oder ob von Anfang an auch Räume vermietet wurden. Dienstpersonal dürfte im Mansardgeschoss gewohnt haben. Geschäfts- und Wirtschaftsräume werden vor allem im Erdgeschoss zu suchen sein, namentlich mit Zugang vom Opernplatz her: Man kann sich lebhaft ausmalen, wie die Frachtwagen durch den seitlichen Torbogen fuhren und in der großen Durchfahrtshalle hielten, um entladen zu werden; die Waren konnten von dort direkt in den geräumigen Keller gebracht werden, der vermutlich als Lager diente. Anschließend konnte auf dem ausgedehnten Hof gewendet oder gleich abgespannt werden. Zudem gab es am Haupttreppenhaus vom Hof her einen weiteren Kellerzugang, der direkt in die großen Gewölbe unter dem Hauptflügel führte: Dort erstreckte sich über die gesamte Breite zur Königsstraße an Straßen- und Hofseite jeweils ein einziges, über 20 m langes Tonnengewölbe. Auch die Kutsche des Hauseigentümers wird häufig den Weg durch die Tordurchfahrt genommen haben und ein langer Seitenflügel, an der Grenze zum Nachbarhaus Königsstraße 39, nahm unter anderem die Stallungen auf. Vom Hof aus führte eine kleine Rampe in den angrenzenden Garten hinauf, der bis zur späteren Wolfsschlucht reichte. Um 1810 war das Anwesen als wertvollstes Privathaus Kassels eingestuft, gleichrangig mit dem Palais der Landgrafen von Hessen-Rotenburg am Königsplatz.
Dass das Gebäude leicht auch an veränderte Nutzungen angepasst werden konnte, zeigte sich 1837, als es vom Kurhessischen Staat für die Militärverwaltung erworben wurde – als Dienst- und Wohnsitz des Kasseler Stadtkommandanten. Zuletzt diente es bis 1958 als Finanzamt, wurde danach vermietet, schließlich an zwei Geschäftsleute verkauft, aufgeteilt und 1968 abgebrochen, wobei die Fassaden unter Verwendung einzelner Originalteile (Balkon und Fensterverdachungen etc.) neu aufgebaut wurden. An diesen Spolien besteht somit auch noch eine Chance, die ursprüngliche, auf einer weißen Grundierung aufgebrachte Farbfassung der Architekturteile durch Befunduntersuchungen ermitteln zu können.

Haupttreppenhaus;
das repräsentative Treppenhaus mit einer freitragenden Treppe,
wie sie heute noch im Palais Bellevue und im Renthof erhalten sind, entsprach dem erhöhten Standard des Hauses.
Fazit
Betrachtet man abschließend das Rouxsche Haus der 1770er-Jahre, so wird beispielhaft deutlich, was die hohe Baukultur jener Zeit ausmachte: zunächst eine sorgfältige Abstimmung auf den Standort und die Umgebung, unter Berücksichtigung von Blicken und Wirkungen, sodass städtebauliche Ensembles entstehen konnten; sodann ein durchgeplanter, guter Entwurf, der die Nutzungsbedürfnisse berücksichtigte und auch untergeordnete Fronten gestalterisch behandelte, und schließlich eine qualitätvolle Durchbildung der Details (wobei die Balkonkonsolen des Rouxschen Hauses dem bedeutenden Hofbildhauer Johann August Nahl d. Ä. zugeschrieben werden). Eine solche Gesamtheit städtebaulicher, architektonischer, funktionaler und künstlerischer Aspekte, die in anderen Fällen auch um Bereiche wie Garten bzw. Freiflächengestaltung zu ergänzen ist, zeugt beispielhaft von der umfassenden Fähigkeit des jeweils verantwortlichen Baumeisters bzw. Architekten.
Autor: Christian Presche