Die Kulturlandschaft einer Stadt ist nicht nur geprägt von Erfolgreichem und Gelungenem, sondern ebenso von Versäumnissen und verpassten Gelegenheiten. Und in seltenen Fällen kommt beides zusammen. Der Fall des Architekten Frei Otto verweist zunächst zurück auf die Aufbruchseuphorie des Kasseler Nachkriegswiederaufbaus und von dort auf Zaghaftigkeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Baukultur – Die Rolle der Bundesgartenschau 1955 beim Zustandekommen der ersten documenta ist bekannt und inzwischen ausreichend gewürdigt. Wer sich für die Geschichte der Weltkunstausstellung interessiert, kommt an dem Hinweis nicht vorbei, dass deren Initialzündung mit dem gartengestalterischen Großevent verknüpft ist. Weniger bekannt – zumindest in Kassel – ist die architekturgeschichtliche Bedeutung des botanischen Ereignisses im documenta-Jahr. Denn wer im heißen Bundesgartenschau-Sommer Schatten suchte, konnte diesen unter elegant geschwungenen Bedachungen finden. Landschaftsplaner Hermann Mattern, der Gartenschau-Gestalter und Akademie-Kollege Arnold Bodes, hatte dem jungen Architekten Frei Otto (geb. 1925), bekannt aus gemeinsamen Stuttgarter Tagen, Gelegenheit gegeben, im Bereich Rosenhang/Karlsaue drei Zeltbauten von innovativer Konzeption erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen. Deren größter in der Nähe des Marmorbades westlich der Orangerie kam als Musikpavillon zum Einsatz: ein »Vierpunktsegel« aus 1 mm starkem Baumwollspezialgewebe, durch 16 mm dicke Stahlseile zwischen den oberen und unteren Festpunkten – zwei einander diagonal gegenüberstehende spindelförmige Kiefernholzmasten sowie zwei Betonblöcke als Bodenverankerungen – über 18 m hinweg ausgespannt.
Mit ihrer minimalistischen Konstruktion wies die sattelförmige Fläche optimale akustische Eigenschaften und ideale Sichtverhältnisse auf. Die dynamische Sternform stand in Einklang mit der gestalteten Natur der Parklandschaft wie mit der Musik, die sich dort ereignete. Dieser Prototyp einer »grünen Architektur« – wie der Architekt seine umweltverträgliche, ressourcenschonenden Bauweise nannte – war Vorbild und Frühform jener spektakulären »Membranarchitektur«, die Frei Otto später unter anderem beim Deutschen Pavillon der »Expo 1967« in Montreal, der Münchner Olympia-Überdachung 1972 und danach in aller Welt mit weitaus größeren Spannweiten realisierte. (Und wenn Hermann Mattern zunächst geplant hatte, für die obligatorische bildkünstlerische Ausstattung seiner floralen Schau ein Zelt – gar auf einem Floß auf einem der Kanäle im Auepark – zu errichten, mochte er an solch experimentelle Zeltkonstruktionen seines Freundes gedacht haben.)
Erinnerungskultur – Im August 2003 wandte sich der inzwischen international renommierte, preisüberhäufte Baumeister und Architekturtheoretiker mit einem ungewöhnlichen Vorschlag an den Kasseler Oberbürgermeister. Der Pionier der ökologischen Leichtbauweise erläuterte seine Idee, im Jahr des bevorstehenden 50. Jubiläums von documenta und Bundesgartenschau – zugleich dem Jahr seines 80. Geburtstags – eine besondere Maßnahme der Erinnerungskultur zu verwirklichen. Es ging Frei Otto darum, 2005 die Tatsache ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen, dass sich 1955 neben den beiden kulturellen Großereignissen auch der Beginn einer innovativen Architekturauffassung mit Kassel verbindet. Er rief in Erinnerung, wie in jenem Sommer die Architekten Deutschlands und der Welt auf die Stadt blickten: Hans Scharouns kühnes Theater-Projekt am Friedrichsplatz sei gerade zu Fall gebracht worden, Hermann Mattern hingegen sei es gelungen, die Orangerie-Ruine zu sichern und als provisorische Ausstellungshalle für pflanzliche Sonderschauen einer exemplarischen zeitgemäßen Nutzung zuzuführen. In diesem Zusammenhang sei den luftigen weißen Zelten seiner »beinahe Zero-Architektur« die Funktion zugefallen, die documenta-Kunst optisch mit neuer Architektur und Gartenbaukunst zu korrelieren.
Frei Otto schlug daher vor, im Jubiläumsjahr jenen für seine Karriere so folgenreichen Versuchsbau an derselben Stelle temporär noch einmal zu errichten. Trotz jahrzehntelanger Gartenpflege, die über das Gelände hinweggegangen war, traute er sich zu, die Fundamente jener vier Punkte wiederaufzufinden, an denen Masten und Halterungen im Boden verankert waren. Unter der technischen Betreuung des Stuttgarter Architekturbüros Rasch & Bradatsch wäre der Musikpavillon kostengünstig zu bewerkstelligen. Und eine weitere Gunst der Stunde bot sich: Im Anschluss an die Präsentation in Kassel hätte das Bauwerk im Rahmen der Retrospektive »Frei Otto – Leicht bauen, natürlich gestalten«, mit der das Architekturmuseum der TU München das Lebenswerk des Visionärs würdigte, gezeigt werden können. Von dort wurde eine Kostenteilung angeboten und angeregt, Kassel könne die Aufstellung in München zur Werbung für seine Kulturhauptstadt-Ambitionen nutzen.
Vermeidungskultur – Zunächst sieht es für das Erinnerungsprojekt gut aus. Karl Weber, als Direktor der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen für den Staatspark Karlsaue verantwortlich, kennt und schätzt den Baumeister und befürwortet dessen Vorstoß. Und auch die Kasseler Architektenschaft zeigt sich interessiert und unterstützungsbereit.
Nach einjähriger Bedenkzeit (der Architekt beginnt allmählich ungeduldig zu werden) agiert man städtischerseits jedoch so skrupulös, dass das Projekt schließlich an der Zaghaftigkeit der bürokratischen Denkungsart scheitert. Eine Integration in die 2005 von Michael Glasmeier kuratierte Jubiläumsausstellung zur documenta-Geschichte wird verworfen. Auch komme eine bloße Aufstellung nicht in Betracht, denn zu deren Legitimation müsse eine Bespielung durch Musikgruppen oder ähnliche Nutzer erfolgen. Zudem müsse an dem prekären Standort für permanente Bewachung gesorgt werden: Wegen nächtlicher Aktivitäten während der Sommermonate sei die Vandalismusgefahr groß. Insgesamt rechnet man mit einem Betrag von 13.000€Euro, den aufzubringen sich die Stadt Kassel nicht in der Lage sieht. Auch wird an örtliche Sponsoren nicht gedacht. Einem weiteren Vorstoß einige Jahre später – diesmal vonseiten der Universität Kassel – ist ebenso wenig Erfolg beschieden. Frei Otto erwies sich als souverän genug, nicht auf seinem Angebot zu beharren, und gab sich mit seiner großen Gedächtnisausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne zufrieden. So hat er auch nicht gesagt, dass in seinem Aufruf »Hört endlich auf zu bauen wie ihr baut« (1977) »Bauen« durch »Denken« ersetzt werden könnte. Und da wohl auch mit dem Tod des Stararchitekten im Jahr 2015 die Chancen seines Reaktivierungsplanes nicht gestiegen sein dürften, geht der epochemachende Musikpavillon nicht nur als Akteur einer Erfolgstory, sondern auch als Opfer einer Vermeidungsstrategie in die Geschichte der lokalen Baukultur wie in die Architekturgeschichte ein.
Autor: Harald Kimpel