Was wohl nur wenige überhaupt in Erwägung ziehen: Susanne Völker hat es vollbracht. Weit über Schneewittchen und den gestiefelten Kater hinaus hat die Geschäftsführerin wie auch Programmleiterin der GRIMMWELT tatsächlich alle Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gelesen, angefangen beim allerersten, dem »Froschkönig«, bis hin zur Nr. 210, dem eher unbekannten, ab der 6. Auflage von 1850 enthaltenen »Die Haselrute«. »Wenn man vor dem Schlafen mehr als fünf davon liest, werden die Träume wirr …«, sagt die Hausherrin. Der Grund ihres traumschweren Unterfangens liegt nahe: Erstmals bietet sich über die vielschichtig angelegten Vermittlungswege der GRIMMWELT nun die Chance, einer breiteren Öffentlichkeit auch die zeit-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Bezüge in den von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen näher zu bringen, über deren puren Unterhaltungswert hinaus. Ein Ansatz, der sicher noch für viele überraschende Erkenntnisse gut sein wird, ganz im Sinne der Brüder Grimm, war deren Schaffen doch seinem Wesen nach geleitet von dem die Romantik prägenden Gedanken eines »Allzusammenhangs«, nach heutigem Sprachgebrauch mithin einer »Gesamtvernetzung« – was sich nicht zuletzt in ihren beruflichen Betätigungsfeldern
widerspiegelte. »Denn sie waren ja nicht nur Märchensammler«, so Susanne Völker, »sondern ebenso wichtige Sprachforscher, Kulturwissenschaftler, Politiker, Rechtsforscher, Sammler und Bibliothekare.«
Individuelle Zugänge schaffen – Welche kontextuellen Vermittlungsmöglichkeiten zur steten Neuerschließung des facettenreichen Werks der Grimms sich so ergeben – ob spielerisch, informativ, narrativ, assoziativ oder interaktiv konzipiert – lässt bereits die erste unter Mitwirkung von Susanne Völker konzipierte Sonderpräsentation »Im Dickicht der Haare« erahnen, einem Material, das die Grimms offenbar nachhaltig faszinierte, angefangen bei den 279 Wortkombinationen mit Haar in ihrem »Deutschen Wörterbuch « bis hin zu Märchen wie »Rapunzel« oder »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«.
In der Ausstellung werden weltweit ausgewählte Beispiele der Auseinandersetzung mit dem Thema Haare gezeigt, von mit Feindeshaar geschmückten Kampfschilden aus Borneo bis hin zu den Frisur-Vorschriften der Disney World. »Es geht darum, individuelle und den jeweiligen Inhalten entsprechende Zugänge zu schaffen und somit ein vielseitiges Ausstellungserlebnis zu ermöglichen «, erläutert Susanne Völker. Im Sinne erlebnisorientierter Wissensvermittlung solle der Besucher so angeregt werden, sich auch mit komplexen Inhalten motiviert auseinanderzusetzen. Völker: »Eine klar gegliederte und dennoch flexible Struktur gibt dafür den Rahmen, ohne eine lineare Abfolge vorzuschreiben.
Der Besucher durchläuft eine Ausstellung, die Überraschungen und Perspektivwechsel bietet.« Das Gegenkonzept des linearbiographischen Museums ist Susanne Völker, die Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtswissenschaften und Museumsmanagement an den Universitäten Hamburg und Wien studierte, aus ihrer vorherigen Position als Leiterin der Museen der Stadt Calw bekannt, wo sie auch für das so ausgerichtete Hermann-Hesse-Museum zuständig war. »Anders als Hesse haben die Brüder Grimm ihr Leben jedoch in den Dienst des Forschungsinteresses gestellt, weshalb die Ausstellung nicht von ihrer Biographie sondern von ihrem Werk ausgeht.« Grundlage für die Ausstellung wie auch das Vermittlungskonzept der GRIMMWELT bilde dabei insbesondere das von den Grimms entwickelte Sprachforschungssystem, präzisiert Susanne Völker. »Denn es vernetzt sowohl Personen wie auch Inhalte auf vielfältigste Weise – wie es auch die GRIMMWELT will, als lebendiger und motivierender Ausstellungs-, Diskurs- und Erlebnisraum.«
Autor: Jan Hendrik Neumann