OKTOGON traf den Stadtbaurat der Stadt Kassel Christof Nolda, die Architektin und Präsidentin der Bundesarchitektenkammer Barbara Ettinger-Brinckmann und den Kasseler Projektentwickler Gerhard Jochinger zum Gespräch. Das Gespräch drehte sich um Themen der Stadt- und Verkehrsplanung, um die Sanierung der Oberen Königsstraße, aber auch um Fragen der Stadtgesellschaft, um die demokratischen Prozesse und die spannende Frage »Was ist Baukultur?«
OKTOGON Frau Ettinger-Brinckmann, Herr Jochinger, Herr Nolda, was bedeutet für Sie »Heimat« und was macht gute Nachbarschaft aus?
Christof Nolda »Heimat« ist der Ort, den man als zentralen Ort seines Lebens definiert, an dem ich mich wohlfühlen möchte und mit dem ich mich auseinandersetze. Das heißt, es ist ein Ort, an dem man sich kümmert. Das ist mir seit vielen Jahren in Kassel gelungen – mal mehr und mal weniger. Ich war zeitweise zu viel unterwegs. Menschen sagten zu mir, dass sie gerne etwas mit mir machen würden, aber ich sowieso nie da sei. Da ist mir bewusst geworden, dass das »Heimat« ist. Wenn Kommunikation mit dem Ort stattfindet, dann ist der Ort Heimat.
Barbara Ettinger-Brinckmann Ich würde es umdrehen und sagen, gute Nachbarschaft macht »Heimat«. Das ist eine ganz wichtige Komponente, die soziale, die der Nachbarschaft, mit der man auf engerem Raum zusammenlebt. Und dann natürlich auch ganz klar das, worüber wir uns unterhalten wollen: unser Thema der gebauten Umwelt und deren Qualität: »Sich wohlfühlen« ist mir ein ganz wichtiges Stichwort für »Heimat«. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die an einem Ort geboren wurden und dort blieben, weil dort die Familie lebte, sondern ich bin immer sehr viel umgezogen in meinem Leben. Jetzt aber bin ich schon sehr lange in Kassel sesshaft und so ist Kassel für mich längst zur Heimat geworden.
Gerhard Jochinger Zwanzig Jahre lang war Österreich meine Heimat und jetzt – seit 40 Jahren – ist es Deutschland. Heimat ist der Ort, an dem man sich wohlfühlt. Dazu konnte ich selbst beigetragen, weil ich mir mein Umfeld weitestgehend selbst gestalten konnte. Da ich beruflich einigermaßen erfolgreich war, konnte ich mir meine Wohlfühlatmosphäre schaffen.
Herr Nolda, in der Presse wird getitelt »Kassel boomt«! Die Bauaktivitäten in der Stadt sind nicht zu übersehen. Das betrifft auch die verkehrsbaulichen Maßnahmen und die rufen mehr und mehr Kritiker auf den Plan bis hin zu Rücktrittsforderungen.
Nolda Ein Mensch erträgt das, wenn er sich als Funktion versteht. Die Funktion, die ich in der Stadt habe, ist es, dafür zu sorgen, dass von der Planung bis zu deren Umsetzung die notwendigen Entscheidungen fallen. Wichtig für die bauliche Entwicklung einer Stadt ist die Abfolge von Entscheidungen. Ohne Entscheidungen kann nicht gebaut werden. Sonst gibt es kein Geld, kein Baurecht und keine Handlungsmöglichkeiten. Entscheidungen werden auf kommunaler Ebene demokratisch getroffen und sind dann auch Entscheidungen der Stadtgesellschaft. In meiner Funktion bin derjenige, der oft Entscheidungsvorschläge in die Öffentlichkeit trägt und sich dann die Auseinandersetzung einhandelt.
Ettinger-Brinckmann Man sollte vielleicht noch ergänzen, dass wir wollen, dass sich unsere Stadt entwickelt. Zur Stadtentwicklung gehört dass Handel, Gewerbe und Wohnungen einen Ort finden. Deswegen muss gebaut werden. Man kann nicht einerseits hoffen, dass man endlich über die Zweihunderttausend-Einwoh-
Ettinger-Brinckmann Man sollte vielleicht noch ergänzen, dass wir wollen, dass sich unsere Stadt entwickelt. Zur Stadtentwicklung gehört natürlich auch, dass Handel, Gewerbe und Wohnungen einen Ort finden. Deswegen muss gebaut werden. Man kann nicht einerseits hoffen, dass man endlich über die Zweihunderttausend-Einwohner-Grenze kommt, aber zugleich darauf beharrren, dass sich nichts verändert. Das widerspricht sich. Selbstverständlich ist Stadtentwicklung ein schwieriger politischer Prozess mit vielen Beteiligten, aber trotzdem bleibt die Demokratie die beste Staatsform.
Der neue Bodenbelag für die Obere Königsstraße ist wohl eine Mehrheitsentscheidung im Rathaus gewesen. In der Veranstaltung im Rathaus Ende April 2015 erläuterten die GTL Landschaftsarchitekten, dass eine Gruppe von etwa 40 Entscheidern den »mausgrauen« Belag favorisiert hätten, entgegen der Empfehlung
der beauftragten Stadtplaner.
Nolda Da muss man deutlich sagen, dass mehrere Vorschläge gemacht wurden und mehrere Stimmen eingeholt wurden. Die Personen, die bei diesen Beteiligungen dabei sind, sind nie repräsentativ. Die Planer haben als Verantwortende des Gesamtentwurfs einen wesentlichen Einfluss, gegen sie kann keine Entscheidung getroffen werden. Bei Entwurfsprozessen geht es darum, die geäußerten Anregungen, die mehrheitlich in eine Richtung gehen, als Planer wahrzunehmen und dann einen Gesamtentwurf zu entwickeln, in dem diese Positionen mit berücksichtigt sind. Die Mehrheitsentscheidung fällt dann im Parlament.
Zeigt das Beispiel nicht auch, wenn man die öffentlichen Kommentare in den Leserbriefen betrachtet, dass bei einer Entscheidung zwischen Mausgrau, Hellgrau oder Anthrazit die Demokratie an ihre Grenzen gerät und es ein gestalterisches Votum braucht, das das Umfeld, nämlich die Architektur, mit einbezieht? Das ist doch keine Frage einer Abstimmung,
welcher Bodenbelag verwendet wird.
Jochinger Man hätte jetzt die Chance, das gescheit zu machen. Was ich überhaupt nicht verstehen kann, ist, dass dann so ein subalterner Aspekt, nämlich die Straßenbahngleise, der Grund dafür sein soll, dass die Straßenmitte nicht gleich mit dem neuen Pflaster einheitlich ausgestattet werden kann. Wenn ich überhaupt ein kleines Stück Großzügigkeit rausholen kann, dann mit einem einheitlichen Belag. Hinzu kommt, dass die Belastung für die Anlieger während der Baumaßnahme enorm groß sein wird. Ich darf gar nicht daran denken. In der Friedrich-Ebert-Straße, da dauert es fast vier Jahre. Dann habe ich noch einen Vorschlag gemacht, auf den ich bisher noch keine Antwort habe. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir aus dem »hässlichen Entlein« doch noch einen Schwan machen können, wenn wir mit guter Lichtplanung arbeiten.
Mir geht es um drei verschiedene Beleuchtungsarten: die Straßenbeleuchtung, eine Effektbeleuchtung und eine Eventbeleuchtung, zu der dann auch die Weihnachtsbeleuchtung zählen würde. Meine Anregungen für eine Effektbeleuchtung wurden bereits von der Stadt aufgegriffen und man wird dann hoffentlich alle markanten Gebäude in der Kasseler Innenstadt in Szene setzen. Zum Beispiel muss das Ende der Oberen Königsstraße mit dem Turm des Landesmuseums einen sichtbaren Endpunkt bekommen, damit die Straße nicht im Dunkel endet. Das gilt genauso für die Karlskirche, wenn man die Wilhelmsstraße herunterschaut oder in umgekehrter Blickrichtung für das Stadtmuseum. Diese Sichtachsen müssen in Szene gesetzt werden.
Weitere wichtige Punkte für eine gezielte Inszenierung durch Licht sind der Friedrichsplatz, der Opernplatz, die documenta-Halle, der Druselturm und die Martinskirche. Das würde in den Abendstunden zu einer wesentlichen Attraktivitätssteigerung beitragen.
Das dritte Thema ist die Eventbeleuchtung. Unter Eventbeleuchtung stelle ich mir vor, dass man mit Farblicht die verschiedenen Fassaden der Stadt in Szene setzt. Eine solche mit Farblicht beleuchtete Fassade haben zum Teil bereits der Kaufhof, der City-Point, die Königsgalerie und SinnLeffers.
Nolda Jetzt zuerst einmal zu der Gleissituation. So ein Projekt hat immer Abhängigkeiten. Grundsätzlich ist das Ziel, die Bereiche der Gleise mit dem gleichen Material zu erneuern. Die Haltbarkeit der Gleise zum Bautermin liegt aber etwa noch bei sieben bis zehn weiteren Jahren, was für die Gleise etwa ein Drittel ihrer Lebensdauer ist. Weder die KVG noch wir sind in der Lage, die Gleisbaumaßnahme finanziell vorzustrecken. Deshalb hat man entschieden, dass nun die grundhafte Erneuerung stattfindet und die Erneuerung der Gleise später geschieht. Und sie ist dann in relativ kurzer Bauzeit zu machen. Die gleiche Vorgehensweise hat man übrigens in Erfurt gewählt. Und es gibt dort ein ordentliches
Bild, weil das Gleis als separater Bereich wahrgenommen wird. Ich selbst finde die Entscheidung auch traurig, aber vernünftig.
Das heißt, dass nach dem nächsten Austausch der Gleisanlagen ein einheitliches Bodenpflaster angestrebt wird?
Nolda Ja, mit dem Austausch der Gleise wird es vereinheitlicht. Zwar werden die Steine im Gleisbereich kleiner sein, das hat technische Gründe. Das Bild, die Farbe und das Material werden aber die gleichen sein. In Bezug auf die Beleuchtung war ich sehr froh über den öffentlichen Hinweis von Herrn Jochinger bei der Diskussionsveranstaltung im Bürgersaal des Rathauses. Wir haben eine Beleuchtungsplanerin, Ulrike Brandi, eingeschaltet und im Moment nur die Entscheidung für die Grundbeleuchtung getroffen. Was die Eventbeleuchtung und die Effektbeleuchtung betrifft: Das ist in Vorbereitung und es muss eine gemeinsame Lösung von Stadt und Anliegern sein.
Jochinger Die Kosten dafür sind überschaubar und eine gute Lichtplanung gehört einfach dazu, um den Umbau der Königsstraße zu krönen und ihn zu adeln!
Die Aufenthaltsqualität in der Kasseler Innenstadt und damit ein Mangel an Atmosphäre und Flair werden von vielen beklagt. Rathausvorplatz, Friedrichsplatz, Karlsplatz, Opernplatz, Rainer-Dierichs-Platz sind nicht besonders einladend und bieten kaum Verweilqualität. Sicher gibt es auch positive Beispiele, wie den Florentiner Platz, aber das sind Ausnahmen. Da helfen auch allein keine Beleuchtungskonzepte oder ein »hübsches neues Pflaster«. Worin sehen Sie die Ursachen für diesen Mangel? Sind da nicht komplexere Maßnahmen gefragt und welche wären das?
Nolda Der Umbau der Königsstraße ist der Beitrag, den wir aktuell zur Weiterentwicklung konkret in Angriff nehmen, dazu gehören auch die unglaublich wertvollen und wichtigen Bereiche im Nordbereich des Friedrichsplatzes, für Kassel ein einzigartiger Ort. Ansonsten sind es durchaus wirksame kleinere Veränderungen wie zum Beispiel die Neugestaltung der Freifläche am ehemaligen Stadtbad Mitte, deren Gestaltung durch einen Wettbewerb entschieden wird. Grundsätzlich müssen wir gemeinsam daran arbeiten, die Innenstadt als Zentrum der Region für Einzelhandel und Kultur durch ordentliche Bauten, gute Freiflächen und interessante Nutzungen weiterzuentwickeln. Das geht definitiv nur gemeinsam.
Ettinger-Brinckmann Eine der erfolgreichsten Maßnahmen für die Innenstadt war das Programm »Stadtplätze – Bauplätze«, das u.a. die Neue Fahrt – vorher eine Reihung von Hinterhöfen – in eine städtische Straße verwandelt hat. Aber einige Plätze warten noch, wie etwa der Grimmplatz, der Hinterhof des Kaufhofs und dann der Karlsplatz mit dem Rathaus als dem unwirtlichsten Platzrand überhaupt: gegenüber der historisch so bedeutsamen Karlskirche begegnet man auf Augenhöhe Müllcontainern und gestapelten Autos. Die Wiedergründung der Unterneustadt mit ihrer Anbindung
an die Innenstadt war eine weitere Erfolgsstory der Kasseler Stadtentwicklung. Hieran sollte man anknüpfen und die »Methode der kritischen Rekonstruktion« auf der Innenstadtseite der Fulda fortsetzen – beim Finanzzentrum ist dies leider bereits versäumt –, aber die Kurt-Schumacher-Straße bietet Chancen zur Nachverdichtung. Hier bedarf es aber zwingend des Brückenschlags zwischen Entenanger und Pferdemarkt – ankommende Seitenstraßen müssen auf der je anderen Seite ihre Fortsetzung finden. Wenn es an Bauinvestition mangeln sollte, dann könnten zumindest alleenartige Baumfassungen die gähnende Leere mildern. Auch ist zu hoffen, dass die beabsichtigte Gastronomie mit dem
Hotel am Renthof die dortige Platzsituation stärkt und die Verbindung zwischen Innenstadt und Unterneustadt nicht etwa beeinträchtigt wird.
Jochinger Die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt ist ein ständiges Thema, das wir immer wieder auf der Tagesordnung des Vorstandes der City-Kaufleute haben. Die Budgets sind dafür sehr begrenzt, aber die Ideen sind da. Es geschieht auch etwas, aber das Agieren der Stadt ist viel zu langsam. Sie braucht viel zu lange, um falsche Entscheidungen zu korrigieren. Ein Beispiel: Es muss dringend wieder Hintergrundmusik in der Gastronomie erlaubt sein, wie es jahrelang der Fall war – aber die ist seit zwei oder drei Jahren verboten.
Ettinger-Brinckmann Noch einmal kurz zurück zum Thema Demokratie und Abstimmung. Da zitiere ich jetzt unseren Bundespräsidenten: »Gute Architektur entsteht nicht durch Volksabstimmung.«
Nolda Richtig! Beteiligung produziert Kriterien für die Beurteilung von Entwürfen. Die vom Entwerfenden erstellte Lösung wird an der Erfüllung dieser Kriterien gemessen, nicht an der Farbe des Belags. Hier in der Königsstraße trägt die Arbeitsgemeinschaft GTL Landschaftsarchitekten in Kooperation mit dem Ingenieurbüro Gajowski diese Verantwortung.
Ettinger-Brinckmann Trotzdem ist der öffentliche Diskurs wichtig, auch der Diskurs mit der Gesamtbevölkerung – um Bewusstseinsbildung zu schaffen und das Thema näher zu bringen – auch das ist ein Aspekt von Baukultur. Was man meiner Meinung nach verfehlt hat, ist die Linienführung der RegioTram unter dem Kulturbahnhof hindurch und nicht, wie es in einer weit ausgereiften Planung vorgeschlagen wurde, hinten am Südflügel vorbei mit einer Einfädelung in die Mitte der Kurfürstenstraße. Das hätte der Kurfürstenstraße Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, die sie jetzt einfach nicht hat. Die Begründung damals war abenteuerlich. Die Läden würden zumachen, wenn die RegioTram nicht im Kulturbahnhof halten würde. Jetzt hält sie unten und kein Mensch sieht den Bäcker, steigt also nicht aus und denkt auch nicht daran, sich jetzt noch ein Brötchen oder eine Zeitung zu holen.
Nolda Es ist ein Problem, dass innerhalb der Oberen Königsstraße der Königsplatz die Hauptumsteigestelle für die Straßenbahnen ist. Wenn man die Verkehrsbelastung am Königsplatz mit der am Friedrichsplatz vergleicht, merkt man einen deutlichen Unterschied. Die Zielsetzung sollte mittel- bis langfristig sein, dass der Stern die Hauptumsteigestelle wird. Dann könnten dort auch die Busse halten. Schade, dass wir wie so oft wieder beim Verkehr gelandet sind – es geht doch um Baukultur!?
Jochinger Ich habe lange gebraucht, um überhaupt das System zu verstehen. Aber sechs Linien sind ein Traum für einen Verkehrsträger, aber ein Albtraum für die Stadtentwicklung. Das macht es uns heute schwer aus der Königsstraße eine attraktive Fußgängerzone zu machen. Alle sechs Linien treffen sich an einer Stelle, sie haben eine lange Bordsteinkante und können behindertengerecht zugleich die Leute von A nach B einsteigen lassen. Das System habe ich erst verstanden, nachdem der Königsplatz umgebaut war. Das baut keiner mehr zurück.
Ettinger-Brinckmann Aber Baukultur hat natürlich damit etwas zu tun. Dann gäbe es für den Königsplatz die Chance, wieder zu einem durchgehenden Platz zu werden und nicht diesen Graben zu haben.
Jochinger Das baut aber keiner mehr zurück.
Ettinger-Brinckmann Naja, das kann man ziemlich leicht zurückbauen.
Kommen wir nun zum Thema »Baukultur«. Warum ist es so schwer, einen öffentlichen Diskurs über die Aufgaben der Stadtplanung zu führen und warum erscheint als erstes immer der Wutbürger, wenn es um ein neues Projekt geht? Warum gibt es so wenig Sachlichkeit und Optimismus in der Diskussion? Es scheint, als herrschten die Bedenkenträger, die jedes Projekt zerreden, bevor es überhaupt angeschoben ist.
Nolda Bauen ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Es gibt den Bereich der öffentlichen Infrastruktur, dort ist die Kommune die Durchführende, Planende und Durchsetzende. Öffentliche Bauten wie die GRIMMWELT, das Stadtmuseum und Schulen sind kommunaler Auftrag. Landesaktivitäten wie die Universität sind ebenfalls öffentlich, aber nicht kommunal. Das sind Bauten, bei denen Planung, Finanzierung und Entscheidung in öffentlicher Hand liegen. Weder die Stadt noch das Land müssen sich da verstecken – streitbar, aber in hoher Qualität. Die Stadt besteht aber im Wesentlichen aus privaten Bauten. Die überwiegende Zahl der Gebäude in der Stadt sind privatwirtschaftliche Gebäude, wie sie von Ihnen, Herr Jochinger, oder anderen Investoren erstellt und betrieben werden. Da muss es ein Zusammenspiel geben. Die Stadt als Organ hat hier die Planungshoheit. Das heißt, dass es neben den allgemeinen rechtlichen Bedingungen Grundregeln gibt, die diskutiert und politisch beschlossen werden, an die man sich halten muss. So wird ein Baurecht in Form von kommunalen Satzungen geschaffen. Dieses Baurecht steckt den Rahmen, wie hoch und wie groß Gebäude an einem bestimmten Platz sein dürfen. Es ist aber nicht so scharf, dass man jetzt genau sagen kann, welches Haus an welcher Stelle entsteht. Es gab Zeiten, in denen sehr genaue Satzungen beschlossen wurden, die meisten Satzungen in Kassel begrenzen sich aber im Wesentlichen auf die mögliche räumliche Ausdehnung. Im konkreten Fall wird dann nach diesen Regelungen entschieden, ob das Gebäude genehmigungsfähig ist. Wer das Ergebnis von Architekturwettbewerben kennt, weiß, dass trotz gleicher Regeln ein Haus sehr unterschiedlich aussehen kann.
Herr Jochinger, wir führen unser Interview in der Königsgalerie und Sie haben sich bei der Projektentwicklung mit schwierigen Fragen des innerstädtischen Bauens auseinandersetzen müssen. Wir möchten von einem Insider gern von Ihren Erfahrungen zu diesen Themen hören.
Jochinger Man muss viel Geduld mitbringen und ein klares Ziel vor Augen haben: Nämlich eine innerstädtische Galerie zu bauen, die internationales Format hat. Es hat neun Jahre gedauert, die Idee zu Plänen und weiterführenden Verträgen reifen zu lassen. Zur Bauzeit war das damals noch etwas völlig Neues für Kassel. Da hat man noch kleiner, einfacher gebaut. Zurückhaltung, Unterordnung, Putzfassade – das waren drei Begriffe, die immer im Raum standen. Wir sollten damals keine Natursteinfassade machen, sondern uns den Häusern links und rechts unterordnen und Zurückhaltung üben. Das hat sich Gott sei dank heute geändert. Aber erst vor wenigen Jahren konnte sich ein Neubau, wie das »Cafe Nenninger«, aus diesen engen Grenzen befreien. Was uns damals nicht gelungen ist, bereitet uns bis heute immer noch Schwierigkeiten, weil wir zum Beispiel die letzten 30 Zentimeter Geschosshöhe nicht bauen können.
Wie muss man sich das nun konkret vorstellen. Es gab ja unglaublich viele Eigentümer.
Jochinger Verschiedene Eigentümer und auch Mieter, die ihre Rechte zum Beispiel am gewohnten Fensterausblick reklamierten oder an Zufahrten, auf denen heute ein Restaurant seine Bestuhlung stehen hat. Man muss als Investor und Bauherr die öffentlich-rechtlichen Belange erfüllen. Das haben wir über städtebauliche Wettbewerbe mit nationaler und internationaler Architektenbeteiligung gemacht. Die haben damals drei Jahre gedauert.
Ettinger-Brinckmann Zu der Frage mit den Wutbürgern: Es ist ja ganz klar, dass am Bauen niemand vorbeikommt. Bauen ist immer in gewisser Weise öffentlich und nie ganz privat. Es ist verständlich, dass sich die Leute, je enger und näher sie an etwas dran sind, desto betroffener und engagierter äußern. Es finden sich immer Bürger mit der Position, dass es keinerlei Änderungen geben soll. Aber es gehört eben auch zum baukulturellen Ansatz, dass man einen konstruktiven und positiven Diskurs über Veränderungen hinbekommt und nicht nur abwehrt und verteidigt. Aber Abwehr jeder Veränderung ist im Moment die in der Öffentlichkeit vorherrschende Haltung und da ist man in Kassel nicht alleine. Überall werden die Vorbehalte artikuliert. Aber die Städte, die eine konstruktive Debatte erreicht haben, denen die positive Kehrtwende gelungen ist, sind auch die Städte, die profitieren. Das wollen wir hier in Kassel auch hinbekommen.
Viele Bürger fordern im Grunde nur einen sensibleren Umgang mit historischen Gebäuden. Aber wenn private Interessen berührt werden, wird die Diskussion sehr emotional.
Ettinger-Brinckmann Es gibt das englischsprachige Akronym »Nimby« für »Not In My Back Yard«. Soll heißen: Überall dürft ihr bauen, nur nicht bei mir vor der Haustür! Wenn man deutlich machen könnte, dass es um den Stadtkosmos als Ganzes geht, hätten wir eine produktivere Debatte. Wenn ein Ausblick verbaut wird, den jemand jahrzehntelang gewohnt war, dann ist das natürlich traurig, klar. Aber wir haben gemeinsame Lebensgrundlagen und eine davon ist ein kostbares und nicht multiplizierbares Gut und das ist der Grund und Boden. Schlussendlich wollen wir ja auch in Kassel vom Trend des »Zurück in die Stadt« profitieren oder zumindest die Einwohner halten, die ja einen ständig wachsenden Flächenbedarf haben. Dann müssen wir auch den Leuten, die hier wohnen wollen, die Möglichkeit geben. Das angesagte Thema muss also Nachverdichtung und Innenentwicklung sein. Das eingeschossige Siedlungshäuschen oder die Villa mit großem Garten können nicht der Maßstab für das städtische Wohnen sein. Beide Wohnformen sind vorhanden, aber darf nicht im Umfeld des Siedlungshäuschens trotzdem ein etwas größeres Wohnhaus auf einem etwas kleinerem Grundstück entstehen, um einen Entwicklungsimpuls zu geben und Kassel als Stadt weiterzuentwickeln?
Mein Reden ist ja immer, dass Kassel überall zu niedrig ist. Es hat zu breite Straßen und eine zu niedrige Bebauung. Wenn man die Friedrich-Ebert-Straße anschaut, ist das doch ganz offensichtlich. Die Ostseite des Königsplatzes bietet ein ähnliches Bild, das die Stadt nicht antasten will, denn der Bauherr soll sich dort an der Höhe der 50er-Jahre orientieren, nicht an den modernen Bauten oder der Westseite. Und am Königstor musste der Bauherr jüngst niedrige Geschosshöhen für sein Bürohaus hinnehmen, da sonst das Haus angeblich zu hoch wird – um nur zwei Beispiele zu geben, wie auch heute noch städtische Entscheidungen innerstädtische Verdichtung verhindern. Also nicht nur die »Wutbürger« gegen Verdichtung.
Wie muss man sich so ein Steuerungselement, wie es die »Charta für Baukultur« werden soll, vorstellen? Sie haben vorhin ihre traditionellen Steuerungselemente wie das Baurecht benannt. Es gibt andere Städte, in denen es eine »Charta für Baukultur« bereits gibt. Auf welche positiven Effekte und Diskussionsformen lässt sich da schauen?
Nolda In der Stadt Kassel war es lange Zeit in Bezug auf das Bauen sehr ruhig. Das heißt, dass diese Auseinandersetzungen, die wir in Kassel gerade erleben, auch darin begründet sind, dass in Kassel heute mehr gebaut wird, zum Glück!
In Kassel hat man sich an solchen Themen nicht abgearbeitet. Was ist die Charta? Durch Bauen wird immer ein Eingriff in das Umfeld vorgenommen. Grundsätzlich wird Veränderung, vor allem von den Leuten vor Ort, als kritisch wahrgenommen. Es gibt schöne Städte und hässliche Städte. Alle bestehen aus Gebäuden und alle messen sich an Gebäuden. Die »Charta« versucht für die Stadt Kassel ein Prinzip zu benennen, wie die Stadt Kassel funktioniert und wie man das »gute Haus« vom »schlechten Haus« unterscheidet. Nach welchen Kriterien kann dies geschehen? Das hat etwas mit Anpassung zu tun, aber auch mit Mut. Auch eine mutige Architektur kann gute Architektur sein. Manchmal ist es wichtig, an bestimmten Orten zu fragen: Warum nicht an dieser Stelle ein höheres Haus? Eine Stadt besteht ja auch aus dem Wechsel von hoch und niedrig. Das wird selten im Gesamtkontext diskutiert. In Städten mit deutlichem historischen Kontext ist es oft einfacher, solche Definitionen zu formulieren. Man lehnt sich an die Historie an und entwickelt daraus eine Selbstdefinition. In Kassel gibt es auch vielfältige Dinge, an die man sich anlehnen kann, und die »Charta« versucht das zusammenzuführen und eine Formulierung der »guten« Baukultur für Kassel zu finden. An diesen Definitionen werden dann Projekte im Entscheidungsprozess gemessen.
Jochinger Dazu möchte ich Folgendes sagen. Baukultur hat etwas mit politischer Kultur zu tun. Die politische Kultur muss stimmen und das tat sie für Jahre eben nicht. Es kann doch nicht sein, dass innerhalb von wenigen Jahren eine Stadt sechs Mal den Baudezernenten austauscht. Wie kann sich so eine Planungskultur entwickeln? Es ist wichtig, dass da Kontinuität reinkommt.
Ettinger-Brinckmann Es fand tatsächlich ein überraschend häufiger Wechsel auf dieser Position statt, der mit Sicherheit nicht positiv für die Stadt ist. Es ist wahrscheinlich das Los des Stadtbaurats, dass man ihn noch immer für die verlorene Stadt verantwortlich macht.
Nolda Erschreckend für mich als Zielperson ist es, wie unsachlich diese Diskussion stattgefunden hat und dass mir Dinge in den Mund gelegt wurden, die ich so nie gesagt habe. Ich bin natürlich dafür zuständig, Vorschläge zu machen und die Diskussion zu einem Entscheidungsprozess zu begleiten. Ohne Anfangsvorschlag geht es nicht. Grundsätzlich sind wir ja auf der Suche nach der besten Lösung für unsere Stadt.
Ettinger-Brinckmann Das finden wir auch. Der BDA hat ein Statement an die HNA geschrieben und darin betont, dass es so, wie die Diskussion geführt wird, nicht geht. Ich finde die Berichterstattung problematisch in diesem ganzen Umfeld, insbesondere wenn Begriffe wie »ein riesiger Klotz« fallen. Diese Polemik und ‚lügende‘ Fotos, in denen die Nachbarbebauung ausgeblendet ist, sind nicht in Ordnung.
Noch einmal zu der Frage der Investoren und Bauherren: Frau Ettinger-Brinckmann: »Bauen ist nie nur privat, sondern immer auch öffentlich.« Diese Aussage beschreibt Aufgabe und Verantwortung des Bauherrn …
Ettinger-Brinckmann Ich sehe die Verantwortung jedes einzelnen Bauherrn in der Stadtgesellschaft. Jedes Haus hat eine Fassade und diese Fassade bildet die dritte Dimension im öffentlichen Raum. Auch die kleinsten Bauwerke wie Fahrradhäuschen oder Garagen sind in den öffentlichen Raum zu integrieren. Nicht nur für die Qualitäten im Inneren sind also die Bauherren verantwortlich.
Deswegen finde ich, dass der Satz sehr gut trifft. Jeder, der baut, sollte sehen, was er der Gesamtgesellschaft zur Verfügung stellt und was er ihr geben sollte. Ein Projekt, in dem wir gerade sitzen, ist ein sehr gutes Beispiel für die Verantwortung eines privaten Bauherrn für die Öffentlichkeit. Hier war vorher eine Parkgarage mit einer unansehnlichen Fassade. Nicht nur die Gestaltung des Hauses, sondern auch das, was es beherbergt, hat eine Wirkung. Jetzt gibt es einen Florentiner Platz, der leben kann, weil eine Wechselwirkung zwischen dem, was im Haus passiert, und dem Außenraum besteht.
Herr Jochinger, Sie haben einmal über die Steigerung von Qualitäten gesprochen. Nun ist es so, dass Bauen durch die verschiedenartigsten Auflagen immer teurer wird. Wäre eine Königsgalerie heute noch möglich?
Jochinger Wahrscheinlich müsste sie heute größer sein. Was mich damals 1987 sehr beschäftigt hat, war das Thema der Erschließungen. Die Frage, wie docken wir das Haus an die öffentlichen Bereiche an. Bei privaten Grundstücken ist nur der Paragraf 34 des Bundesbaugesetz zu beachten. Bei städtischen Grundstücken kann jedoch alles bestimmt werden. Die Königsgalerie war ein Zwischending: Der Bauteil A, der an der Neuen Fahrt steht, war vorher ein städtisches Parkhaus. Der Bauteil B zur Königsstraße hin aber war ein privates Grundstück. Im städtebaulichen Vertrag wurde festgeschrieben, dass die Stellplatzerschließung der Garage nicht über die Neue Fahrt, sondern über die Friedrichsplatzgarage stattfindet. Ein weiterer wichtiger Punkt war durch das kleine denkmalgeschützte Häuschen an der Treppenstraße durchzugehen, dort einen Eingang zu schaffen, das war eine schwierige Aufgabe für unseren Architekten. Belohnt wurden wir schlussendlich, als wir 1997 den internationalen Shopping-Center-Preis für die Königsgalerie erhielten.
Nolda Häuser müssen drei Dinge erfüllen. Das erste ist die Funktion: Die Fläche zum Benutzen muss drin sein, das Wasser muss draußen bleiben, das Haus muss beheizt sein, es muss den Anforderungen der Nutzer entsprechen. Da gehört durchaus auch ein Erscheinungsbild dazu, denn in ein hässliches Haus geht kein Kunde gern hinein. Die zweite Anforderung ist die des Respekts. Jeder, der sich in die Reihe eingliedert, muss respektvoll mit seinem Umfeld umgehen und wissen, dass er sich in die Reihe einsortiert. Dieser Respekt kann auch darin bestehen, dass in der Reihe eine Dominanz ergänzt wird. Das ist durchaus respektvoll. Der Respekt gegenüber Klimaschutzanforderungen oder einem Baum, der auf dem Grundstück steht, das sind alles Aspekte, die dem Gesamten den Respekt entgegenbringen.
Der dritte Aspekt ist die Möglichkeit, durch Gebäude eine Geschichte zu erzählen. Ein Gebäude ist in der Lage, eine Haltung oder Erzählung auszudrücken. Alle, die Städte bereisen, kennen dieses Erlebnis, dass Städte Eindruck machen und Eindrücke hinterlassen. Und zwar durch ihre Häuser. Der Anspruch ist bekannt, dass er gelingt ist definitiv nicht immer so. Viele neuere Gebäude zeigen, wenn überhaupt, wie sie funktionieren. Die Auseinandersetzungen um das Bauen beruhen wesentlich auf mangelndem Respekt und der geringen Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Gute Architektur zeichnet sich auch immer dadurch aus, dass die ästhetischen Fragen beantwortet werden. Dazu gehört auch das Verbauen von wenigen Materialien …
Ettinger-Brinckmann Das gehört auf jeden Fall auch dazu. Das Thema Nachhaltigkeit wird zwar ziemlich inflationär benutzt, aber wenn man bedenkt – es kommt ja aus der Forstwirtschaft –, was es bezwecken soll, dann beschreibt der Begriff genau den Anspruch, den die Architektur haben muss. Nach Vitruv* stellen sich an die Architektur drei Anforderungen, nämlich ein funktionsfähiges Gebäude (utilitas), ein stabiles, nachhaltiges, dauerhaftes und langlebiges Gebäude (firmitas) und ein Gebäude von ästhetischer Qualität (venustas) zu schaffen. Erst dann ist es für mich gute Architektur. Es gibt eigentlich keine »gute« Architektur an sich, es ist so etwas wie der weiße Schimmel, denn Architektur ist das qualitätvolle Bauen.
Der Trend zum »städtischen Wohnen« und damit einhergehend die Landflucht und Ausdünnung des Umlandes hat zugenommen. Es herrscht erhöhte Nachfrage nach Wohnraum in der Stadt. Das Nebeneinander von Wohnen, Handel, Dienstleistung und Verwaltung in der Innenstadt ist durchaus gewünscht. Dem stehen Maßnahmen kontraproduktiv gegenüber, wie sie bei der Diskussion um Stadtbad Mitte-Areal deutlich wurden. Bestimmen nicht große Investoren wie die OFB inzwischen, wie Flächennutzungen letztendlich aussehen? Droht hier das Thema »innerstädtischen Wohnraum schaffen« mangels Lobby ins Hintertreffen? Hat hier die Stadt Kassel überhaupt Steuerungsmöglichkeiten?
Ettinger-Brinckmann Kassel dürfte in der Innenstadt eigentlich schon ein ganz gutes Angebot an Wohnungen haben – sie entsprechen nur kaum noch den heutigen Ansprüchen und machen auch eher einen Vorstadteindruck. Statt Stadt wurde nach dem Krieg in Kassel Siedlung gebaut. Das ist nur schwer korrigierbar. Gleichwohl gibt es schon einige gute Beispiele der Modernisierung, die den oft monotonen Charakter der Bauten aufhebt. Hieran muss gearbeitet werden – auch hier gilt wieder Nachverdichtung, Innenentwicklung und selbstverständlich die Nutzungsmischung, die zu einer Stadt der »kurzen Wege« führt – auch ökologisch macht das Sinn. Das Pferdemarktquartier bietet sich hier hervorragend an. Dass die Stadt auf eine die Innenstadtqualität bereichernde Nutzung des Grundstücks ihrer eigenen Gesellschaft (Schwimmbad) ohne Not verzichtet hat, ist ein schwerer und unglaublich bedauernswerter Fehler. Solch‘ ein Sahnestück! Hier hätten wir Wohnen und Arbeiten bestens miteinander verknüpfen und beispielgebend auch für andere Städte wirken können.
Nolda Die Innenstadt ist definitiv ein guter Wohnstandort. Es gibt wenige Städte, die so idyllische Wohnsituationen wie den Bereich Entenanger und den Pferdemarkt mitten in der Stadt zu bieten haben. Es kann mehr dazukommen, es kann die Qualität auch durchaus gemischter sein, als es heute der Fall ist. Ich sehe dafür Chancen und Möglichkeiten Möglichkeiten. Sicher ist, dass eine Innenstadt aber auch durch die in ihr befindlichen Arbeitsplätze und sowieso durch den Einzelhandel lebt. Ich sehe derzeit keine Bevorzugung von einzelnen Nutzungsarten. Uns liegen zu allen Nutzungsarten Anträge und Vorschläge vor.
Wenn wir noch einmal von der City wegschauen, in die angrenzenden Stadtteile, wie Wahlershausen oder Bettenhausen, dann haben diese noch einen dörflichen Charakter. Der wird zumindest gerne zitiert und als bewahrenswert diskutiert. Inwieweit sind Bebauungspläne, die Mitte der 70er-Jahre entstanden sind, heute noch der Maßstab für Stadtteile wie Wehlheiden und Harleshausen, in denen es darum geht, den Bau von neuen Mehrfamilienhäusern zu realisieren?
Nolda Kassel hat ganz unterschiedliche Baustrukturen. Wenn man die alten Ortskerne der ehemaligen Dörfer betrachtet, die eingemeindet wurden, dann haben wir welche, die leiden, und welche, die diese Qualität in besonderer Art nutzen. Wir sind im Moment daran zu arbeiten, die Leidenden zu stützen und zu stärken. Es ist ungewöhnlich in einer Stadt, dörfliches Wohnen in einem Stadtgebiet zu ermöglichen. Wir haben unterschiedliche Lebensbedingungen und deshalb braucht man auch unterschiedliche Wohnformen. Wir bewerten diese dörflichen Strukturen relativ hoch und sagen, dass das eine Art und Weise ist, in der Stadt zu wohnen. In Waldau und in Nordshausen sehen wir da Verbesserungspotenzial. Der andere Aspekt, den Sie ansprechen, stellt sich eher so dar, dass die Bebauungspläne der 1950er- und 60er-Jahre höhere Bebauungsdichten zulassen, als damals tatsächlich gebaut wurden. Dort entstehen dann heute diese größeren Gebäude. Sie entsprechen durchaus dem Bedarf, weil sie gut erschlossene Stadtwohnungen mit guter Wohnqualität bieten. Die Gebäude verändern die Nachbarschaft, das ist nicht ohne Konfliktpotenzial. Wir sind nicht böse, dass dann mehr Menschen in diesen Quartieren leben und die Infrastruktur nutzen. Dabei eine gute städtebauliche und architektonische Qualität zu erreichen ist nicht einfach. Wir haben an dieser Stelle baurechtlich erhebliche Probleme, steuernd einzugreifen. Das Baurecht ist auf Dauer und auf Verbindlichkeit angelegt, es ist kein Werkzeug zur schnellen Korrektur. Hier sind definitiv die Architekten gefragt, gute Lösungen für die Innenentwicklung anzubieten. Es ist nicht die Aufgabe eines Stadtbaurats, Architekturen von Einzelhäusern zu verteidigen. Der private Bereich in den Häusern wird immer größer und damit der Platz in der Stadt enger.
Ettinger-Brinckmann Deswegen macht eine Nachverdichtung auch Sinn. Es gibt gerade im Osten des Landes die Probleme, dass durch die Kanäle Wasser durchgespült werden muss, damit sie nicht völlig kaputtgehen. Und es macht auch unter ökonomischen, ökologischen und stadttechnischen Aspekten Sinn, den Leuten dort Wohnraum anzubieten, wo die technische und soziale Infrastruktur schon vorhanden ist. Man muss die Leute mitnehmen und vorbereiten. Aber die Umsetzung geht nur schrittweise und wirkt zu Anfang nicht immer positiv. In meiner Nähe, in Kirchditmold, muss man nur einmal durch die Zentgrafenstraße fahren. Dort gibt es riesige »Gründerzeitzähne« und daneben steht das kleine Häuschen aus dem 18. Jahrhundert. Also auch solche Brüche, viel stärker als heute, hat es schon immer gegeben.
Nolda Einfamilienhausgebiete sind heute Seniorenwohnanlagen. Mehrgeschosswohnungsbauten sind Kinderhochburgen. Die Gesellschaft hat sich verändert. Nur 16 Prozent der Kinder wohnen in Einfamilienhausgebieten. Die vorhandene Baustruktur wird unseren heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht. War bisher Stadtentwicklung Erweiterungsauftrag, so ist heute der innere Wandlungsprozess unsere Aufgabe. Im Bestand mit guter Architektur für die veränderte Gesellschaft bauen, das ist der Auftrag und auch die Auseinandersetzung, die wir heute führen müssen – gemeinsam!
*Vitruv (Vitruvius oder Marcus Vitruvius Pollio) war ein römischer Architekt, Ingenieur und Architekturtheoretiker des 1. Jahrhunderts v. Chr. Er arbeitete unter Augustus als Architekt und als Ingenieur am Bau des Wassernetzes in Rom, wo er ein neues System der Wasserverteilung einführte. Zu seinen Errungenschaften als Architekt gehörten der Bau der Basilika von Fanum Fortunae, dem heutigen Fano. Zwischen 33 und 22 v. Chr. entstand dann sein Werk, »Zehn Bücher über Architektur« (Originaltitel: »De architectura libri decem«).
Das Gespräch führten Helmut Plate und Armin J. Noll