Die neue Zentrale des internationalen Medizintechnikanbieters B. Braun im Melsunger Stadtwaldpark besticht mit radikaler Transparenz und großzügiger Geräumigkeit. Beim Umbau des denkmalgeschützten ehemaligen Sanatoriums für Lungenkranke ist den Mailänder Architekten von Il Prisma eine Neuinterpretation des Gebäudes gelungen. Die Mitarbeiter freuen sich über viel Licht, viel Luft und jede Menge Transparenz. Aber auch über neue Räume für Kreativität, hierarchiebefreite Meetings und unkonventionelle Projektgestaltung.
Ich fahre bereits eine ganze Weile durch die nordhessische Waldeinsamkeit und frage mich, ob ich eine Abfahrt oder Beschilderung verpasst habe. Ich komme an gefällten Baumstämmen und einem schwitzenden Jogger vorbei und werde langsam unruhig. Kann das wirklich hier sein? Es kann, denn nach einer weiteren Kurve taucht vor mir eine Schranke nebst Pförtnerhäuschen auf.
Ich stehe vor der Einfahrt der neuen Konzernzentrale von B. Braun im Melsunger Stadtwaldpark. Vom Pförtner bekomme ich einen Besucherausweis ausgehändigt und einen schönen Tag gewünscht und passiere die Schranke. Meine Wagenräder machen knirschende Geräusche auf dem Kies. Als ich aussteige, schlägt mir der Geruch von Waldboden, Harz und Kiefernnadeln entgegen. Um mich herum altehrwürdiger Baumbestand im grünen Laubgewand, prachtvolle Rhododendren in üppiger Blüte und ein Zwitscherkonzert allererster Güte – die Idylle weckt die Dichterin in mir. Das lang gestreckte Gebäude, auf das ich jetzt zugehe, wirkt mit seinen pittoresken Zwiebeltürmchen, schiefergedecktem Walmdach über vanillefarbener Fassade und dezenten Fachwerk-Elementen keineswegs wie das Headquarter eines international führenden Medizintechnikanbieters. Eher wie eine steingewordene Manifestation aus Thomas Manns Zauberberg. Fantasien von weißgewandeten Schwestern mit adretten Häubchen und schwindsüchtigen Patienten auf Panorama-Terrassen stellen sich ein.
Und das nicht von ungefähr, denn das Gebäude wurde 1904 als Sanatorium für lungenkranke Arbeiter der Preußisch-Hessischen Eisenbahngesellschaft gebaut. Hustenburg hieß es bezeichnenderweise im Melsunger Volksmund.1979 hat B. Braun die 17 Hektar große Anlage mit den im Park verstreut liegenden Wohngebäuden samt Chefarzt-Villa gekauft und zunächst zu Forschungslaboren und Tagungszentren umfunktioniert. Die Entscheidung für den radikalen Umbau zur jetzigen Konzernzentrale fiel erst 2014. Und radikal soll er gewesen sein. Wobei das bei B. Braun eine gewisse Tradition zu haben scheint. Immerhin soll Prof. Dr. h.c. Ludwig Georg Braun – bis 2011 Vorstandsvorsitzender des Unternehmens und in fünfter Generation sowie gerader Linie vom Unternehmensgründer Julius Wilhelm Braun abstammend – bereits 1992 beim Einzug in die damals gerade eingeweihte Konzernzentrale gesagt haben: »Veränderungen müssen radikal sein.«
Niemand Geringeres als die international gefeierten Stararchitekten James Stirling und Michael Wilford hatte er beauftragt, die Stadt der Industrie zu entwerfen, und ermuntert, mit mutigen Grundrissen, innovativen Materialien und flexiblen Strukturen zu spielen. Damit hat er Baukultur als festen Bestandteil der Unternehmenskultur etabliert (OKTOGON berichtete im Mai 2016). Keine niedrige Hürde für die Architekten des Mailänder Architekturbüros Il Prisma, als sie sich der Herausforderung stellten, einen Entwurf für den Umbau der ehemaligen Hustenburg zu entwickeln. Drei Jahre hat der Umbau gedauert, 30 Millionen Euro war er dem Unternehmen wert und das bereits in der Stadt der Industrie ins Leben gerufene innovative Bürokonzept sei in diesem Zuge »logisch und konsequent weiterentwickelt« worden. Das sagt Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Heinz-Walter Große, dem der innovative Umbau eine Herzensangelegenheit war: »Uns war es wichtig, Räume zu schaffen, in denen Unternehmenswerte wie Transparenz und Flexibilität gelebt werden können. Ebenso wie ein Austausch auf Augenhöhe – unabhängig von Positionen und Hierarchien.« Schließlich sei man bei B. Braun davon überzeugt, dass die besten Ideen im Austausch entstehen. »Wir nennen das Sharing Expertise und das wird tatsächlich gelebt«, sagt Große.
So weit das Ergebnis meiner Vorrecherche. Während ich dem abschüssigen Kiesweg folgend auf das Eingangsportal zugehe, wächst meine Neugier. Das zwischen Betonpfeilern herauskragende Vordach wirkt trotz seiner nüchternen Schlichtheit wie eine Willkommensgeste. Ich trete ein und blicke durch den gesamten Innenraum des Gebäudes bis zur rückwärtigen Glasfassade und hinein in das dahinter liegende Tal. Hier hat jemand Ernst gemacht mit dem Thema Transparenz, denke ich. An den antiken Apothekerschränken vorbei – offenbar eine Hommage an die Wurzeln des Unternehmens – gehe ich durch eine offene Glastür und betrete das Atrium. Ich bin geneigt, den Blick, der sich mir eröffnet, als atemberaubend zu bezeichnen – Allgemeinplatz hin oder her. Aber ist er das wirklich? Genaugenommen nämlich nicht – ich werde meines Atems keineswegs beraubt. Viel mehr tue ich das, was das Gebäude tut: Licht und Luft atmen.
Und das nicht zu knapp. Genau wie die Architekten es laut eigener Aussage beabsichtigt hatten. Vor mir windet sich in eleganten Spiralen eine Treppenhelix über vier Stockwerke bis unter das verglaste Dach. Zwölf Meter ist sie hoch und scheint im Raum zu schweben. Eine bauliche Herausforderung sei das gewesen, wie der Ingenieur Marc Hänsel von der Kasseler Planungsgesellschaft RSE berichtet. Er hat den Umbau geleitet und versichert, dass er wohl kein zweites Mal die Chance haben werde, ein solches Ausnahmeprojekt betreuen zu dürfen. Der Einbau der Treppe sei Millimeterarbeit gewesen. Um die Maßgenauigkeit zu garantieren, wurde sie geschossweise gefertigt, danach in transportfähige Einzelteile zerlegt und schließlich vor Ort mit einem Kran eingebaut und zusammengeschweißt.
Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke hinauf in den sommerlich blauen Himmel. Nicht nur große Teile von Dach und Fassade sind verglast, sondern auch die seitlich angrenzenden Flügel offen und transparent gestaltet. Das Thema Atmen war das tragende Element für den Entwurf: Die spiralförmige Treppe sollte die Dynamik ausdrücken, mit der die Luft in die seitlich angrenzenden Gebäudeflügel – sozusagen die Lungenflügel – strömt. So wie eine Lunge jedes Organ des Körpers mit frischer Energie füllt, sollte dies offenbar auch die Helixtreppe mit den Organen des Gebäudes tun.
Ich stelle mir vor, dass hier früher einmal kleine Zimmer hinter langen, dunklen Fluren lagen, aus denen Hustengeräusche drangen. Ob die jetzige Architektur eine gesundende Wirkung auf die damaligen Patienten gehabt hätte? Ich würde es nicht ausschließen. Über die gewundene Treppe gehe ich hinauf auf eine der Galerien, die sich auf jeder Eben befinden. Auch hier Verglasungen. Raumhoch und – wie ich bei genauerem Hinsehen entdecke – in sich gebogen. Beim Nachfragen erfahre ich, dass das Glas in geradem Zustand geliefert und vor Ort um bis zu 24° Grad gebogen wurde. Der Effekt ist verblüffend, denn das Glas scheint in sich beweglich zu sein. Insgesamt wurden über 2.000 Quadratmeter Glasfläche verbaut. Nahezu alle Räume – auch die Konferenzräume, in denen der Vorstand tagt – sind einsehbar.
Über die Helixtreppe steuere ich nun – bei so viel licht- und luftdurchtränkter Leichtigkeit selber fast schon schwebend – das Erdgeschoss an. Im großzügigen Anbau befindet sich das Betriebsrestaurant Ma(h)lZeit. Hier treffe ich Frau Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf, Senior Vice President der beiden Bereiche Corporate Communications und Corporate Human Resources. Offenes Lächeln, fliederweißer Blazer und fester Händedruck. Sie wirkt so beschwingt und dynamisch, als sei sie soeben von einem Waldspaziergang zurückgekommen. Ob das der Einfluss dieser im doppelten Sinn des Wortes inspirierenden Architektur sei, will ich von ihr wissen (Spiritus lat.: Geist und Atem. Anm. d. Red.). Sie lacht.
Es sei tatsächlich ein Glück, in so offenen und lichtdurchfluteten Räumen zu arbeiten und das verfehle seine Wirkung keineswegs. »Man kann kaum anders, als mit offenen Augen und Ohren durch seinen Arbeitsalltag zu gehen, ich selbst eingeschlossen.« Gerade habe sie beim Vorbeigehen an einem der Konferenzräume gesehen, dass Frau Dr. Beller, im Vorstand zuständig für Steuern und Finanzen, von ihrer Dienstreise zurück sei. »Gut zu wissen, dass sie sich nicht nur in der gleichen Zeitzone, sondern auch im gleichen Gebäude befindet, denn ich muss sie heute unbedingt sprechen.«
Aber abgesehen von solchen eher alltäglichen Informationen, die man dank der Transparenz bekäme, habe das Arbeiten in den neuen Räumlichkeiten noch einiges mehr zu bieten.
Das vor 18 Jahren in den Pfieffewiesen eingeführte Bürokonzept 2010 sei jetzt mithilfe der Mitarbeiter weiterentwickelt worden. »Wir haben damals schon auf einen Schlag die bis dahin festen Arbeitsplätze durch flexible ersetzt.« Auch die Führungskräfte hatten kein eigenes Büro mehr, das zugleich – wie damals gang und gäbe – durch Größe und Ausstattung den jeweiligen Status repräsentierte. Vorgesetzte seien seither Teil des Teams. Von heute auf morgen also keine Chefs mehr, die sich hinter dicken Bürotüren verschanzen, und schon gar keine Vorzimmer, in denen Assistentinnen sie wie Zerberusse vor der Außenwelt abschirmten. Ob das – zumal zu einer Zeit, als agile Arbeitsformen und flache Hierarchien zumeist noch Zukunftsmusik waren – nicht für Aufruhr gesorgt habe?
»Klar war das für einige erst mal gewöhnungsbedürftig«, sagt Tillmanns-Estorf. »Aber bei B. Braun hat vor allem die Innovation Tradition und alles Neue, das Hand und Fuß hat, setzt sich in der Regel durch.« Statt sich also routiniert jeden Tag am immer gleichen Ort auf den Bürostuhl plumpsen zu lassen und sich dort häuslich einzurichten, suchen sich die Mitarbeiter den Platz, der für ihre jeweilige Aufgabe am besten geeignet ist. »Das erweitert den eigenen Horizont beinahe automatisch und lässt wenig Raum für einschläfernde Routine«, so Tillmanns-Estorf. Dass mit dieser Idee tatsächlich ernst gemacht wird und gleiches Recht für alle herrscht, beweist die Tatsache, dass nicht einmal der Vorstandsvorsitzende, Prof. Dr. Heinz-Walter Große, über ein eigenes Büro verfügt.
Um das Bürokonzept sinnvoll weiterzuentwickeln, habe man zunächst zu einer Befragung aufgerufen. »Die Resonanz war super«, erinnert sich Tillmanns-Estorf. Im zweiten Schritt wurde in Kreativworkshops mit den Mitarbeitern erarbeitet, was sich ändern sollte. »Weit über 90 Prozent der Ideen haben wir auch umgesetzt.«
Wichtig seien den Mitarbeitern zum Beispiel Ruhebereiche für konzentriertes Arbeiten, Raum für vertrauliche Gespräche und Telefonate, ohne die Kollegen zu stören, gewesen. Aber auch die Möglichkeit, sich bei einem Tee oder einer Tasse Kaffee auszutauschen. So entstanden verschiedene neue Arbeitsbereiche, wie Ruhezonen, Kreativräume und Telefonboxen. Überall im Gebäude – in den Fluren, auf den Galerien und im Atrium – finden sich kleine Gesprächsinseln, in denen informelle Besprechungen stattfinden. Cockpits bieten Raum für konzentriertes Arbeiten, die größeren Büros ermöglichen den Austausch untereinander und die integrierten Küchen mit Loungebereich sollen auch die Pausenzeiten zu einem Ideenpool machen. Auch das Betriebsrestaurant sei ein beliebter Arbeitsort. »Die transparente und variierende Arbeitsumgebung wird unglaublich gut angenommen und fördert ein selbstbestimmtes und agiles Arbeiten im Team.«
Ich gestehe, dass mich das nicht wundert: Mit einer beinahe über die gesamte Front verlaufenden Glasfassade wirkt es hell und luftig. Neben runden Tischen, an denen vielköpfige Teams Platz finden, gibt es auch Bistrotische und intimere, schallgeschützte Gesprächsinseln. Und die Außenterrasse bietet – Allgemeinplatz hin oder her – einen atemberaubenden Blick ins waldige Tal, das Bilder an längst vergangene Zeiten weckt. Aber ich löse mich tapfer von meinen Zauberberg-Fantasien von legendären Luftkurorten mit nachmittäglichen Tanztees und Kurschatten-Stelldichein im Rhododendron-Wald und mache mich auf zu den Arbeitsbereichen. Dort treffe ich Gertrud Greiling, die während des Umzugs in den Stadtwaldpark ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feierte. Sie ist persönliche Assistentin des Vorstandsvorsitzenden und war bereits bei der Einführung des Bürokonzepts 2010 im Projektteam dabei. Allein schon deshalb sei es ihr ein Anliegen gewesen, sich auch bei der Weiterentwicklung einzubringen.
»Während der Kreativworkshops hatten wir einen Gedankenzeichner dabei, der unsere Ideen festgehalten hat. Eine davon kam von mir und heute gehe ich täglich an ihr vorbei«, sagt sie und zeigt auf eine Gesprächsinsel in Form eines Rondells. »Wenn man als Mitarbeiter erlebt, dass die eigenen Ideen wahrgenommen, ernstgenommen und angenommen werden, ist das ein tolles Gefühl.«
Das findet auch Jens-Martin Bohm, der als Digital Brand Manager ebenfalls bei der Weiterentwicklung involviert war: »Ich bin selber immer wieder erstaunt über die Flexibilität, die wir hier haben: Wenn die Besprechungsräume ausgebucht sind, trifft man sich in der Kantine oder in einer der Lounges. Der Austausch mit Kollegen und Kunden kann eigentlich überall stattfinden – das wollten wir umsetzen und das ist auch gelungen.«
Wir kommen vorbei an einzelnen Cockpits, in denen Mitarbeiter allein und konzentriert arbeiten, an Großraumbüros, die als Ruhezone ausgewiesen sind, und an Besprechungsräumen. Jeder Arbeitsplatz hat ergonomisch höhenverstellbare Arbeitstische und jeder Mitarbeiter seine eigene Maus und Tastatur samt Roll-Caddy, in dem er sein persönliches Arbeitsgerät aufbewahrt, erklärt mir jetzt Sina Walter, die als Managerin für Personal- und Organisationsentwicklung die Weiterentwicklung des Bürokonzepts koordiniert hat. »Ich freue mich täglich, so einen schönen Arbeitsplatz zu haben, und nutze das Bürokonzept exzessiv«, sagt sie. Sie genieße es sowohl, im Open Space zu sitzen und sich mit Kollegen auszutauschen, als auch im Cockpit, wenn sie fokussiert und ungestört arbeiten will. Ihr persönliches Highlight sind die Kreativräume: »Es hat nun mal einen völlig anderen Effekt auf das Miteinander und die Ideenentwicklung, wenn man auf bunten Sitzsäcken oder an Stehtischen arbeitet, statt auf ledernen Konferenzstühlen um einen ovalen Tisch herumzusitzen.«
Irgendwann mal vor hundert Jahren diente dieses Gebäude dazu, Menschen dabei zu helfen, wieder freier zu atmen und damit am Leben zu bleiben. Heute ist es das Headquarter eines Unternehmens, in dem Mitarbeiter ihre Ideen einbringen, austauschen und gemeinsam weiterentwickeln. Der Name Hustenburg hat damit sicherlich ausgedient. Auf meinem Weg über den knirschenden Kies zurück zu meinem Wagen denke ich über Alternativen nach. Wäre der Begriff Luftschloss nicht so speziell geprägt, würde er durchaus passen, denke ich und gönne mir einen Blick zurück: Denn luftig und wie ein Schloss wirkt es durchaus. Und müssen wir nicht zumindest in Gedanken Luftschlösser bauen, wenn wir neue Welten erschaffen wollen?
Autorin: Christin Bernhardt