Thorsten Muck hat in seinen beiden ersten Jahren als Geschäftsführer bei THONET die Traditionsmarke aus Frankenberg wieder dort positioniert, wo sie hingehört: in die Spitzengruppe der Design-Möbel-Marken in der Welt. Muck (48), der zuvor Geschäftsführer bei ERCO Leuchten war, hatte seine neue Aufgabe bei THONET im Oktober 2013 angetreten. Peter Thonet, der sich Anfang 2014 aus der aktiven Unternehmensleitung zurückgezogen hatte, übergab das Unternehmen nach – mit eigenen Worten – »nicht ganz einfachen Jahren, in denen unter anderem eine umfassende Restrukturierung des Unternehmens stattfand«. Stand die Kölner Möbelmesse im Januar 2014 noch ganz im Zeichen der Design-Klassiker von THONET, so präsentierte das Unternehmen im Folgejahr in Köln mit einem Paukenschlag den Lounge-Sessel 808 und dann im Frühjahr auf der Mailänder Möbelmesse ein ganzes Programm zum Thema »Lounge« – vom Bugholzsofa 2002 über den Clubsessel S 830 und den Holzsessel 860 bis zum Möbelprogramm S 650. Warum die neuen Möbel doch zu hundert Prozent die DNA von THONET in sich tragen, erklärt Thorsten Muck im Gespräch mit OKTOGON.
OKTOGON Wir haben uns mit großen Interesse Ihre beiden Videokanäle auf Youtube angeschaut. Sie haben für die Unternehmenspolitik der letzten Jahre den Begriff der Reorganisation benutzt – war es so, dass das Unternehmen konstatieren musste, dass die Marke an Strahlkraft verloren hatte?
Thorsten Muck Das muss man sehr differenziert betrachten. Ich glaube, dass nicht die Marke an sich an Strahlkraft verloren hatte, sondern ein wenig an Möglichkeiten, sie so zu entwickeln, wie es für sie eigentlich gut wäre. Das hat aus meiner Sicht auch damit zu tun, dass die Möbelbranche in den letzten zehn Jahren sehr stark gelitten hat. Dem hat sich das Unternehmen auch nicht wirklich entziehen können. Das, worum es uns nun geht und was wir in den letzten zwei Jahren insbesondere versucht haben, nach vorne zu bringen, ist das zu fokussieren, was die Marke wirklich ausmacht, und dieses konsequent in das Zentrum der Kommunikation zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass Marken wie Leuchttürme funktionieren. Ein Leuchtturm hat nicht viel Energie zur Verfügung, aber durch ein intelligentes System ist er in der Lage, das wenige Licht so zu bündeln, dass man es auf sehr große Entfernungen wahrnimmt. Das ist das, was wir hier auch versuchen. Es geht uns darum, diejenigen Menschen zu erreichen, die die gleiche Haltung teilen. Es ist dort auch ähnlich wie beim Licht: Nicht alles wird gut reflektiert, aber manches wird besonders gut reflektiert. Auch nicht alle Farben werden gleich gut reflektiert. Die Menschen, die sich für THONET interessieren, sind in der Regel sehr reflektierte Menschen, denen Nachhaltigkeit wichtig ist, auch eine gewisse Zeitlosigkeit, Minimalismus, Handwerklichkeit und Individualität.
Sie haben das Stichwort Handwerk genannt. Es gehört zum Markenkern und die Marke wird sehr stark damit verbunden. Dazu gehört auch, dass die Firma immer aus der Familie heraus geführt wurde. Insofern markiert ihre Position als Geschäftsführer, der nicht aus dem Familienkreis kommt, doch einen Wendepunkt in der Aufstellung des Unternehmens.
Muck Ich bin nicht der erste Geschäftsführer außerhalb der Familie. Es gab in den 2000er-Jahren schon einmal einen. Wir verstehen uns aber nach wie vor als Familien-unternehmen. Die Familie sitzt durch Peter Thonet im Beirat, ist Gesellschafter und operativ am Unternehmen beteiligt. Philipp Thonet führt das Amerika-Geschäft. Die Söhne von Claus Thonet sind in der sechsten Generation im Vertrieb tätig. Der eine arbeitet als Handelsvertreter der Region Köln-Düsseldorf und der andere organisiert für uns das Geschäft in Österreich und Südtirol. Insofern ist der Einfluss der Familie nach wie vor da. Trotzdem ist es für den familienfremden Manager wichtig, dass er zwei Dinge berücksichtigt: Er sollte versuchen, möglichst viel von dem zu inhalieren, was das Unternehmen an Tradition zu bieten hat, weil es wichtig ist, daraus die DNA abzuleiten. Und die DNA muss so kristallisiert werden, dass sie das Fundament eines Unternehmens bilden kann. Erst wenn man ein sicheres Fundament gefunden hat, kann man von dort das Unternehmen weiterentwickeln. Gleichzeitig muss sich der familienfremde Manager bewusst sein, dass es ihm leichter fallen dürfte, strategische Entscheidungen zu fällen, weil er eben nicht diese lange Geschichte auf den Schultern trägt. Das ist etwas, das man sehr wohl dosieren muss. Man darf nicht alles über Bord werfen, was da war, aber man ist eben ein bisschen unbelasteter von der Tradition. Das ist aus meiner Sicht ein großer Vorteil.
Beschreibt das Thema »Sitzen« diesen Markenkern?
Muck Es geht um sehr viel mehr. THONET entwickelt sich in Richtung »Lebenswelt«. Und das geht weit über Sitzmöbel hinaus. Sie finden Sideboards und Regale in unserem Sortiment. Wir beschäftigen uns sehr intensiv mit dem Thema »Licht« und haben die »Lum«, unsere Stahlrohrleuchte von Ulf Möller, wieder aufgefrischt, sodass sie an Funktionalität gewonnen hat. Zudem haben wir eine neue Leuchte im Sortiment, die aus biologischem Leinen gefertigt wird. Das ist Flachs, der in Belgien und Frankreich angebaut wird, im Allgäu zu Leinen verwoben wird, in Berlin von Hand bedruckt und in Hamburg von Hand zusammengebaut wird. Diese Leuchte heißt »Linon«, was altgriechisch für »Leinen« steht. Die neueste und gerade vorgestellte Leuchte heißt »Kuula« – das finnische Wort für »Kugel«. Wir haben uns bei dieser Leuchte in der Zusammenarbeit mit dem Designer gefragt, wie eine Leuchte heute aussehen würde, die die Bauhausgestalter mit den aktuellen technischen Möglichkeiten bauen würden. Sie ist sehr reduziert: Ein Zylinder auf einer mundgeblasenen Glaskugel – das ist sehr spannend. Reduzierter kann man sie gar nicht gestalten.
Bei der Leuchte »Lum« ist die Verbindung zur THONET-Tradition selbsterklärend. Das verwendete Strahlrohr ist identisch mit dem Strahlrohr der Freischwinger – oder nicht?
Muck Es ist das gleiche und kommt aus der Schweiz. Wir kaufen das Beste, was da ist, das kann man nicht anders sagen (lacht). Wir haben uns gefragt, ob man das Rohr möglicherweise aus Kostengründen austauschen kann. Am Ende sind wir zu dem Schluss gekommen, dass in der ganzen Kette, also vom Stahl über das Schleifen, das Biegen, das erneute Schleifen, das Verchromen, dies die günstigste Lösung für uns ist. Die Qualität des eingesetzten Materials ist so hoch, dass wir im Nachhinein sehr wenig Aufwand bei der Bearbeitung haben.
Wenn man auf die 20er-Jahre zurückblickt, in denen THONET begonnen hat, sich für das neue Wohnen des Bauhauses zu engagieren, und wie es gelang, in kürzester Zeit Weltmarktführer für Freischwingermöbel aus Strahlrohr zu werden – das war doch für einen traditionellen Holzbetrieb eine technologische Revolution.
Muck Für THONET sind zwei Phasen sehr entscheidend gewesen. Die erste war die Phase des Holzbiegens. Dieses kam von Michael Thonet, der sich bewusst von Möbeln der damaligen Zeit abgrenzen wollte. Die Möbel des Bürgertums im 19. Jahrhundert waren traditionell sehr schwer. Er wollte jedoch sogenannte Laufmöbel herstellen, also Möbel, die man schnell verschieben konnte. Damals hat er in Boppard begonnen, mit Furnierschichten zu experimentieren, die in Leimwasser gekocht und in Formen gelegt wurden. Als er dann aber begonnen hat, diese Möbel zu exportieren, haben sich die Furnierschichten gelöst. Es war ihm also klar, dass er ein Verfahren entwickeln muss, mit dem er volles Holz biegen kann, damit solche Fehler nicht passieren. Das Verfahren hatte also seinen Ursprung darin, dass er ein neues Design entwickeln wollte. Das gleiche passierte mit den Möbeln der Bauhaus-Zeit. Diese folgten der Idee des neuen Wohnens. Es entstand der hinterbeinlose Kragstuhl, wie er damals bei Mart Stam hieß, der das Sitzen wie auf einer elastischen Luftsäule ermöglicht. Zuerst wurde mit Gasleitungsrohren experimentiert. Da die Stühle sehr unbequem waren, wurde Thonet gefragt, so erzählt es zumindest die Legende, ob wir in der Lage wären, Stahl genauso zu biegen, wie wir Holz biegen. Und so kamen die Kontakte zum Bauhaus zustande. Marcel Breuers Stühle S 64 und S 32 sind eine Hommage an den Holzstuhl von THONET. Er hat die typische THONET-Technik mit Bugholz und Rohrgeflecht auf das Stahlrohr übertragen. Viele wissen nicht, dass Marcel Breuer Miteigentümer eines Unternehmens in Berlin namens »Standard Möbel« war, das ihm zusammen mit zwei Partnern gehörte. Diese Firma hat THONET 1929 gekauft und sie ist Bestandteil unserer DNA. Wir bauen Bauhaus-Möbel nicht nur, weil wir sie gut finden. Sie gehören schlicht zu unserer eigenen Firmengeschichte. Das ist etwas, worüber wir sehr lange nicht genau gesprochen haben – das machen wir verstärkt erst seit zwei Jahren. Wir haben auf der Möbelmesse 2013 begonnen, es so explizit zu erklären. Dann war ja noch Ihre Frage, ob es noch einmal eine solche Revolution gibt. Wir werden häufig darauf angesprochen, weil viele Leute denken, dass es Materialrevolutionen waren, die das Unternehmen prägten. Das waren sie aber gar nicht, sondern eigentlich Design-Revolutionen. Man hat nach einer komplett neuen Form gesucht und die neue Form hat dann ein anderes Material bedingt. Erst wenn wir also eine revolutionär neue Form entwickeln würden, die ein neues Material bedingt, würden wir beginnen, danach zu suchen.
Was sind im heutigen Design die herausragenden Anforderungen und Umwälzungen, die zu der neuen Strahlkraft der Marke THONET beitragen können?
Muck Wir haben für uns eine Design-Charta entwickelt. Und diese Design-Charta ist mit zwei Fragen überschrieben: Warum braucht die Welt dieses Produkt? Und warum von THONET? Das sind zwei Ebenen, die man durchaus voneinander trennen muss. Wir unterteilen die Charta in die Bereiche Form, Material und Prozess. Für jeden dieser Bereiche gibt es sogenannte Muss- und Soll-Kriterien. Manche Kriterien müssen bei einem Produkt erfüllt werden und manche wünschen wir uns erfüllt. Dazu gehört zum Beispiel der Anspruch an ein ikonenhaftes Design. Dies ist Bestand unseres Leitbildes. Man kann es aber nicht programmieren, sondern das entscheidet der Markt, und man weiß es erst nach zehn bis zwanzig Jahren, vorher nicht.
Innerhalb dieses Designschemas bewegen wir uns. Das hassen manchmal die externen Designer, weil sie es als Einengung empfinden, aber wir finden es sehr spannend, uns innerhalb eines solchen Rahmens zu bewegen. Es gilt also gleichermaßen für interne wie externe Projekte, wobei wir bei jedem Projekt entscheiden, ob es eine Aufgabe für externe Designer ist oder ob wir es unserem internen Designteam geben.
Das Segment der Leuchten haben wir ja schon gestreift. Neu sind auch Polstermöbel.
Muck Das ist gar nicht so neu – Beispiel James Irvine, der 2006 das Polsterprogramm S 5000 entwickelt hat. Überhaupt schauen wir sehr gerne in alte THONET-Kataloge und haben ein sehr großes Archiv, das nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist. Dort lassen wir uns immer wieder inspirieren.
Bei den Sesseln und Sofas des internen Designteams gibt es immer wieder Bezugspunkte zu den Entwürfen aus den 50er-Jahren. Man erinnert sich an den berühmten Cocktailsessel. In der Zeit gab es also richtige Polstermöbel?
Muck Die hat es gegeben. Es gab Gestalter, die für THONET exzellente Entwürfe gemacht haben. Wir haben im Dezember 2013 gemeinsam mit der Produktentwicklung das Archiv besichtigt. Das Briefing war ganz simpel. Wir haben drei unserer Designerinnen gebeten, dass sie ein Möbelstück aus dem Archiv identifizieren, das zum Thema »Lounge« passt und ihnen persönlich gefällt. Da die drei Angesprochenen sehr unterschiedliche Menschen sind, war uns völlig klar, dass drei unterschiedliche Produkte herauskommen würden. Wir haben uns von der Vergangenheit inspirieren lassen. Wir wollten aber auch nicht die Vergangenheit einfach wieder aufleben lassen. Eine Metapher für die alten Möbel sind »Eltern«, die mit den neuen Möbeln »Kinder« bekommen haben, die zwar ein ähnliches Aussehen, aber einen sehr eigenen Charakter haben. Es geht darum, die Geschichte fortzuschreiben und nicht nur zu konservieren.
Es ist so, dass sich Designer mit Entwürfen an uns wenden. Es vergeht kein Tag, an dem kein Entwurf zu uns gesendet wird. Wir haben pro Woche bis zu zwanzig Entwürfe. So setzen wir uns alle zwei bis vier Wochen mit der gesamten Produktentwicklung zusammen und bewerten jeden Entwurf nach verschiedenen Kriterien. Es geht immer um die ästhetische Qualität, die funktionale Qualität und das, was wir den strategischen »Markenfit« nennen, also ob es zu uns passt und warum es von THONET sein sollte. Wir identifizieren bei den Besprechungen die Designer, von denen wir glauben, dass sie von der Handschrift gut zu THONET passen. Das sind von vierzig Designern vielleicht einer oder zwei und mehr nicht. Dann laden wir diese zu einem Kennenlerntag nach Frankenberg ein. Wir zeigen den Designern dann das Museum, den Showroom und die Fabrik. Wir erklären unsere Haltung und setzen uns mit der gesamten Produktentwicklung zusammen und besprechen uns mit den Designern. Man schaut einfach, ob man die gleichen Haltungen hat. Und wenn dies der Fall ist, dann fragen wir vier bis fünf verschiedene externe Designbüros bei einem Projekt mit dem gleichen Briefing an. Und dann »pitchen« diese. So ist es beim 808 auch gewesen. »Formstelle« hat uns sofort in Bezug auf die Herleitung überzeugt. Das ist ein Produkt, das verschiedene Motive in sich trägt. Zum einen das Motiv der schützenden Hülle, also eine eher unwirklich wirkende Hülle, die die harte Umwelt aber auch abschirmt, und innen ist es sehr soft. Das zweite Motiv ist das des hochgestellten Kragens. Und das dritte Motiv ist das eines Mantarochens. Diese Idee hat dazu geführt, verschiedene Farbwelten zu entwickeln. Wir haben das so weit getrieben, dass wir gemeinsam mit einer kleinen Manufaktur aus der Nähe von München einen eigenen Stoff entwickelt haben, der dreidimensional ist und auch noch einen akustischen Effekt hat. Der 808 ist der Einstieg in das für uns neue Segment »Lounge«.
Das Gespräch führten Armin J. Noll und Helmut Plate; Fotografie von Harry Soremski