Kaum irgendwo in Kassel herrscht eine derart friedliche Koexistenz von Gewerbe und Wohnen wie im Stadtteil Marbachshöhe. Wo andernorts Mischnutzungsgebiete um ein positiveres Image kämpfen, hat sich auf dem Gelände ehemals militärisch genutzter Liegenschaften ein gefragtes Quartier mit urbaner Vitalität und Qualität entwickelt. Für Bewohner und Gewerbetreibende steht das Wilhelmshöher Viertel gleichermaßen hoch im Kurs. Mit der Erschließung des Lüttichkasernen-Areals als Technologiepark findet eine beachtliche Entwicklung ihren Abschluss, die als beispielhaft für ein gelungenes Konversionsprojekt gilt.
»Kompanie – stillgestanden!« Wer heute auf dem großen zentralen Platz im Bad Wilhelmshöher Stadtteil Marbachshöhe flaniert, kann sich kaum mehr vorstellen, dass dort vor noch gar nicht allzu langer Zeit Soldaten zum Appell antraten. Der einstige Exerzierplatz auf dem Gelände der ehemaligen Wittich- und Hindenburgkaserne ist nun eine gepflegte Rasenfläche, auf der gebolzt wird; eine Multifunktionsfläche lädt zu Basketball und Skaten ein. Mit Beginn des Konversionsprojekts, des Umbaus des Kasernenareals im Jahre 1994, sind um den Platz herum schöne Eigentumswohnungen entstanden – in Trägerschaft der städtischen GWG und der seinerzeit neu gegründeten Kaserna Urbana. Etwa 160 Wohnungen bieten die umgebauten Mannschaftsunterkünfte an den Platzrändern, wo sich unter anderem auch Schulen, Einrichtungen für Kinder und die Hessenakademie angesiedelt haben. Die Freie Schule etwa, eine selbstverwaltete, reformpädagogisch orientierte Grundschule mit Förderstufe, inspiriert von Joseph Beuys‘ Schaffen, hat im ehemaligen Unteroffizierskasino an der Nordseite eine neue Heimat gefunden wie auch der Hort Kind und Kegel und der Kindergarten Rasselbande. Für viele Stadtteilbewohner gilt dieser rund 15.000 Quadratmeter große Wilhelm-Rohrbach-Platz als »Seele des Quartiers«.
Carl Flore, Abteilungsleiter beim Stadtplanungsamt und maßgeblich in den Konversionsprozess involviert, kann sich noch gut daran erinnern, wie dieses einzigartige Stadtbauprojekt damals 1994 auf die Stadt zukam und welche ungewöhnlichen Entwicklungsmöglichkeiten es bot. Starke Zuströme von Menschen, ausgelöst durch die Grenzöffnung nach dem Zusammenbruch der DDR, die Kriege auf dem Balkan und die zusätzlichen Bewegungen von Russland-deutschen, hätten für eine enorme Nachfrage nach Wohnraum gesorgt.
»Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus sowie im privaten Bereich die Sonderabschreibung für Wohnungen, gepaart mit den glänzenden Zukunftsprognosen für Kassel, hatten zu einem sehr attraktiven Investitionsklima geführt«, sagt Flore. »Viele der vor Ort engagierten Wohnungsbaugesellschaften haben im Neubaubereich dann innovative Wohn- oder Baukonzepte realisiert, darunter zahlreiche Projekte mit Pilotcharakter.« Bei vielen Planungen wurden die späteren Nutzer von Beginn an einbezogen.
So erstellten etwa die GWH und die WohnStadt Reihenhäuser, die sowohl mietbar als auch zu kaufen waren. Mit großen Gemeinschaftsräumen und zum Teil barrierefrei verfolgte dagegen das Wohnstadt-Projekt einen innovativen Ansatz im öffentlich geförderten Wohnungsbau zur Förderung einer lebendigen Hausgemeinschaft mit verschiedenen Generationen unter einem Dach. Ein barrierefreies Wohnprojekt realisierten auch die Vereinigten Wohnstätten 1889 in Zusammenarbeit mit dem Gemeinnützigen Siedlungswerk aus Frankfurt. Motto: Mitbestimmung in der Genossenschaft. Und auch die Genossenschaft Alternativ Wohnen 2000, hervorgegangen aus dem Verein alternatives Wohnen, zielte auf einen gemeinschaftlichen, generationenübergreifenden Wohnansatz: Mehr als drei Dutzend Menschen von Jung bis Alt leben in einem Mix aus Sozialwohnungen und Eigentumswohnungen. Besonderes Aufsehen erregte damals die GWG mit 40 Sozialwohnungen in zwei mehrgeschossigen Baukörpern, die im Rahmen des bundesweit ersten Modellprojekts in Passivbauweise errichtet wurden. Die von den Architekten ASP (Nolte, Reese, Weinmann), HHS (Hegger, Hegger-Luhnen, Schleiff) und Prof. Schneider (Detmold) für die GWG geplanten Wohngebäude in der Julie-von-Kästner- und Auguste-Förster-Straße erzielten den Bauherrenpreis 2002 »Hohe Qualität – Tragbare Kosten«, ausgelobt vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, dem Bund deutscher Architekten und dem Deutschen Städtetag. Die Maßnahmen der GWG auf dem Gebiet ökologischen Bauens und der CO2-Reduzierung wurden damit unter bundesweiter Beachtung ebenso gewürdigt wie die Rolle der Bauherren und Investoren mit ihrer Verantwortung für die gestalterische, ökologische und soziale Qualität der Bauwerke sowie der Mut zum Experiment. Neben dem sozialen Wohnungsbau fanden auf dem Areal der beiden Kasernen auch aufregende Eigentumsprojekte Einzug. So schufen die Genossenschaften WohnStadt, GWG und GWH in einem Gemeinschaftsprojekt attraktive Stadtvillen direkt am Marbachsgrünzug. Die Lage am Landschaftsschutzgebiet bietet einen Blick bis in die Söhre.
Von Anfang an haben Künstler, Kunsthandwerker und Designer mit ihren Angeboten und Ateliers das Leben im Quartier bereichert. Zur Erhöhung der Lebensqualität tragen auch ein Bio-Wochenmarkt, das anthroposophisch orientierte Gesundheitszentrum sowie solch exotische Angebote wie die des Kinder- und Jugend-Circus Rambazotti bei, der eine integrative Arbeit mit ausländischen und sozial schwachen Kindern leistet. Bis zu 400 Heranwachsende trainieren dort, wochenends präsentieren die Nachwuchsartisten in der Manege unter dem Dach der einstigen Panzerreparaturhalle ihre Artistik. Und auch die Senioren kommen auf ihre Kosten: Das AWO-Altenzentrum Marbachshöhe wurde vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen mit der Bestnote für Qualität und Kundenzufriedenheit bewertet. Erfolgreich agiert auch das Unternehmen Biond, das Bio-Mittagsessen für Schulen und Kitas bereitstellt und ein nicht nur bei Anwohnern beliebtes Restaurant betreibt. Zweimal wurde Biond als bester Caterer Deutschlands ausgezeichnet, auch die belieferten Schulmensen erhielten verschiedene Preise.
Leben und Arbeiten gehen in dem Quartier ausgesprochen friedlich Hand in Hand. Dies liegt vor allem daran, dass die Stadtplaner und alle Beteiligten sehr darauf achteten, dass sich hier ein wohnverträgliches Dienstleistungsgewerbe ansiedelt. Beste Beispiele dafür sind die Unternehmen der ersten Stunde: Micromata, das passgenaue Softwarelösungen für große Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Automotive, Medizintechnik, Energie und Rohstoffgewinnung entwickelt, mit Kunden wie Wintershall, Wingas, K+S, B. Braun, Volkswagen, Eon und DHL; die OctaVIA AG mit ihrer Spezialisierung auf IT-Business-Consulting sowie SAP-Beratung und Entwicklung, die Kommunikationsschmiede Insignio mit einem Spektrum von klassischer Werbung bis zu Corporate Publishing und B2B-Kommunikation. Und mittendrin pulsiert ein Technologie- und Gründerzentrum, die FiDT (Fördergesellschaft mbH für innovative Dienstleistungen und Techniken), die Startups durch die kritischen Jahre bis zur Konsolidierung begleitet. Laut Kai Lorenz Wittrock, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Region Kassel (WFG) und Ansprechpartner für Unternehmen bei Standortfragen, liegt die Auslastung dort bei ca. 90 Unternehmen. Ein Beweis für die hohe Attraktivität des Areals. Insgesamt seien derzeit am Standort Marbachshöhe etwa 100 Unternehmen, Initiativen und Vereine angesiedelt, die rund 1.000 Arbeitsplätze generieren.
Auf der Marbachshöhe hat sich ein Quartier mit einer vielfältigen Nutzungsmischung über Wohnen, Bildung, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Gesundheit, Kunst, Gewerbe und innovative Dienstleistungen entwickelt. Im Gegensatz dazu und als konsequente Weiterentwicklung setzten die Stadtplaner und Projektentwickler bei dem seit 2006 zur Verfügung stehenden Lüttichkasernen-Areal voll auf eine gewerbliche Nutzung. Die Bundeswehr sei mit ihren verbliebenen Einrichtungen, dem Schulungszentrum und dem Heeresmusikkorps, in den Konversionsprozess integriert worden, ansonsten gilt beim Technologiepark Marbachshöhe nomen est omen. »Mit dem circa 15 Hektar umfassenden Bereich in der Nähe der FiDT, des ICE-Bahnhofs und der Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der Universität Kassel ist ein hochwertiger Unternehmens- und Dienstleistungsstandort und ein attraktives Umfeld für technologieorientierte Unternehmen entstanden.Zusammen mit dem Stadtviertel Marbachshöhe bildet es ein modernes, mit nachhaltigen Strukturen versehenes Stadtquartier, in dem Wohnen und Arbeiten eng miteinander verknüpft sind«, sagt Kai Lorenz Wittrock. »In den vergangenen Jahren haben sich Unternehmen aus der Luftfahrttechnik, der Verkehrs- und Fahrzeugtechnik, der Umwelt-und Energietechnik und des Sport- und Freizeitbereiches niedergelassen.«
So findet sich dort ein Trainingszentrum von Airbus Helicopters (einst Eurocopter), ein Ableger der Airbus Group und Weltmarktführer im Helikopterbusiness, während unweit davon der Drohnenspezialist Aibotix von sich reden macht. Deren Aibot genannte Flugobjekte werden für Geografie und Vermessungen, industrielle Inspektionen, etwa bei Stromleitungen und Photovoltaik-anlagen, sowie für Luftbild- und Filmaufnahmen eingesetzt. Weitere Player sind der K+S IT Service, ein aus dem ehemaligen EDV-Bereich der K+S Gruppe entstandenes, auf Dienstleistungen im SAP-Umfeld spezialisiertes Unternehmen, sowie die Systemzentrale der Sagaflor AG, die als Zusammenschluss selbstständiger Garten- und Zoofachhandelsunternehmen in Deutschland, der Schweiz und Österreich erfolgreich die jeweils lokale Kompetenz, Innovationskraft und Marktposition ihrer Partner stärkt. Das 150 Mitarbeiter starke Unternehmen verließ seinen alten Standort in Baunatal und errichtete im Technologiepark einen Neubau, der 2015 bezogen wurde.
Des Weiteren liefert die Enco Energie Consulting als gefragte Ingenieurgesellschaft und als Fachplaner der technischen Gebäudeausrüstung energieeffiziente Konzepte und Entwürfe für Neubauten und Sanierungen und sorgt mit nachhaltiger Planung und Realisierung dafür, die Anzahl der Lebenszyklen von Immobilien zu erhöhen und die Gesamtlebensdauer einer Immobilie zu verlängern. Die 35 Mitarbeiter von Trondesign hingegen sind auf Entwürfe für Flugzeug- und Automobilhersteller spezialisiert. Die Design-Erfahrungen in der Ausarbeitung technischer Konzepte und Konstruktionen bis hin zum eigenen Prototypenbau führen zu erfolgreichen Advanced Engineering Projekten. In einem solchen Umfeld wundert es kaum, dass dort nicht nur das DAX-Unternehmen K+S eine eigene Kita namens »educcare Bildungskindertagesstätte – Glückskinder« mit Fokus auf ganzheitliche Erziehung, Bildung und Betreuung betreibt, sondern sich auch eine auch internationale Schule befindet. Nach Niederlassungen in Bayern und Baden-Württemberg hat auch Kassel eine SIS Swiss International School mit einem Kindergarten – perspektivisch ist geplant, den durchgängigen bilingualen Unterricht bis zur Hochschulreife zu erweitern. Junge Menschen werden dann vorbereitet, selbstbewusst die Herausforderungen der globalisierten Welt anzunehmen und zu meistern.
Autor: Jürgen Kettler
Fotos: Klaus Schaake (9); Michael Meschede MM Video Fotowerbung (1)