»Stadtplanung geht alle an« – war ein bekannter Slogan im West- berlin der Nachkriegsjahre. An Brennpunkten des Planungs- und Baugeschehens informierten Schautafeln und Vitrinen mit Modellen das interessierte Publikum. Ich erinnere mich noch besonders an die Schnittmodelle entlang einer neuen U-Bahnlinie mit Einblicken in die urbane Unterwelt. Neue Bahnhöfe mit teils künstlerischer, durch Wettbewerbe gefundener Gestaltung, die sich in den oberirdischen Zugangsbauten mit urbanen Funktionen fortsetzte, machten Eindruck und vermittelten Bürgerstolz – trotz aller Unbilden für die Anlieger während der Bauzeit. Dazu kamen spannende Baustellenführungen und eine kontinuierliche, gut recherchierte Berichterstattung in den Medien. Im ersten Statusbericht der Bundesregierung zur Baukultur (2001) heisst es in ganz ähnlicher Diktion:»Baukultur geht alle an, weil die gebaute Umwelt jeden einzelnen Bürger beeinflusst und verändert.« Die Gründung der Bundesstiftung Baukultur 2006 durch Bundesgesetz bezog sich ausdrücklich auf die gesellschaftspolitische Bedeutung, wie sie im o.g. Zitat zum Ausdruck kommt. Folgerichtig wurden von Anfang an neben der Architektur auch Städtebau und Stadtentwicklung, Landschaft und Freiraum, und vor allem der Prozess des Planens und Bauens in die Ziele einer Förderung von Baukultur integriert. Es geht also nicht nur um die Produkte des Bauens, vom einzelnen Haus, über ganze Quartiere, bis zu städtischen Grün- und Verkehrssystemen, sondern auch immer um den Weg zu den baulichen Ergebnissen. Dieser Ansatz schließt alle Akteursgruppen, wie private und öffentliche Bauherren, lokale Politik und Verwaltung, Fachleute verschiedener Disziplinen und die Stadtgesellschaft mit ein. Kommunikation und Beteiligung sind deshalb Schlüsselbegriffe in allen Debatten um Baukultur.
Egal, welche Leitsätze und Gestaltungsvorschläge die im Entstehen begriffene, von Stadtbaurat Christof Nolda initiierte »Kasseler Charta zur Baukultur« enthalten wird: im konkreten Baugeschehen wird es immer unterschiedliche Meinungen über »schön« oder »hässlich« geben. Das kann man aktuell sehr schön am Beispiel der Planung für die Erneuerung der Königsstraße sehen, und das hat seinerzeit beim Umbau von Königs- und Friedrichsplatz hoch emotionale Züge angenommen – mit dem Höhepunkt des Abrisses der »Treppe« in einer Nacht-und-Nebel-Aktion.
Das Aufregerthema Nr.1 ist derzeit in Kassel – neben allem, was die Innenstadt betrifft – die Diskussion um die so genannten »Stadtvillen«, ein übrigens selten dämlicher, irreführender Begriff für kompakte Mehrfamilienhäuser, oder besser: Mehrwohnungshäuser, denn über 4/5tel aller Haushalte in Kassel bestehen nur noch aus einer oder zwei Personen. Barbara Ettinger- Brinckmann hat zurecht darauf hingewiesen, dass »Bauen im Bestand« auf lange Zeit das Hauptthema bleiben wird, sind doch die Kasseler Neubaulandreserven nahezu erschöpft und muss der zu erwartende weitere Wohnflächenkonsum von 7-8 qm/Person in den nächsten 20 Jahren, (das macht alleine ca. 1.4 Mio Qm Wohnfläche aus!), irgendwo untergebracht werden. Auch ihr Hinweis auf die stadtökonomisch nachhaltigere Auslastung vorhandener Infrastrukturen, von Leitungen bis zu Kitas und Läden, als Begründung für eine bauliche Nachverdichtung bevölkerungsmäßig ausgedünnter älterer Wohnquartiere trifft ins Schwarze.
Dass man von der Stadt mehr Einflussnahme auf dieses bisher weitgehend naturwüchsig verlaufende Baugeschehen erwartet, ist im Einzelfall verständlich, stösst aber auch immer wieder an Grenzen. So hat der neoliberale Mainstream der letzten Jahrzehnte mit den Zauberworten Deregulierung, Privatisierung, Globalisierung u.a. zu einem Abbau von planerischen Steuerungsmöglichkeiten und personellen Ressourcen in der Verwaltung geführt. Gerhard Jochinger hat schon recht, wenn er feststellt, dass Baukultur auch etwas mit politischer Kultur zu tun hat, auch wenn er es anders gemeint hat, als ich hier argumentiere.
Sind wir also gespannt auf die Kasseler Charta zur Baukultur. Aber Vorsicht: es gab in Deutschlands unseligsten Zeiten schon einmal den Begriff der »anständigen Baugesinnung«, die im Zweifelsfall mit dem »Verunstaltungsverbot« durchgesetzt wurde. Und hellwach sollten wir sein, wenn Medien und Teile der Stadtgesellschaft statt eines gepflegten Meinungsstreits um die besseren Argumente mit Schaum vor dem Mund den Kopf von Personen fordern, die es auf sich nehmen, ihren Dienst in einem demokratischen System fachlich und politisch ernst zu nehmen. Die Baukultur in Kassel hat Besseres verdient.
Kurz noch einmal zurück zu den Schaukästen und Vitrinen meiner Jugend- und Studienzeit in Berlin: nicht dass solche Informationsmedien heute gänzlich uninteressant wären, vor allem Modelle haben immer eine hohe Anziehungskraft, aber sie treten naturgemäß hinter die neuen digitalen Medien zurück. Und da ist Kassel mit seinem ständig aktualisierten Newsletter, oder auch mit dem Quartiersmanagement in Stadtteilen mit größeren städtebaulichen Maßnahmen, wie etwa der Umgestaltung von Friedrich-Ebert-, Goethe- und Germaniastraße auf einem baukulturell guten Weg. Die Charta zur Baukultur wird hoffentlich den begonnenen stadtgesellschaftlichen Dialog um ein gutes Leben in einer noch ansehnlicher werdenden Stadt befördern helfen. Wir sind alle gefordert, teilzunehmen, jede und jeder an seinem Platz. Sich zurücklehnen und motzen, bzw. nach hiesiger Mundart »mähren« »gibbet nich.«
Autor: Christian Kopetzki