Mit seinem weithin sichtbaren Turm markiert das Hessische Landesmuseum (HLM) den Scheitelpunkt zweier Sicht- und Verkehrsachsen: der Wilhelmshöher Allee und der Oberen Königsstraße. Dem Schloss wendet der 1913 zur Tausendjahrfeier Kassels eingeweihte Museumsbau den Rücken zu und öffnet sich in Richtung Innenstadt. Der repräsentative Bau vereint Elemente des Jugendstils mit Bauformen der Neorenaissance und steht als eines der wenigen erhaltenen Gebäude sinnbildlich für die Endzeit des Deutschen Kaiserreichs. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur ein Jahr nach der Eröffnung beendete nicht nur ein Kapitel deutscher Politikgeschichte, sondern zugleich eine Epoche der Baugeschichte. Von den großflächigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg blieb das Landesmuseum weitestgehend verschont und diente auch in der Nachkriegszeit als musealer Standort sowie als Zeugnis eben dieser baulichen Epoche. Im Laufe der Jahrzehnte erfuhr das Gebäude zahlreiche Neuerungen und Umbauten. Nicht alle waren der musealen Nutzung zuträglich, manche gelten gar als »Verschandelungen«, wie es Matthias Schirrmacher nennt, der als Architekt bei HG Merz den Umbau des HLM leitet. Das erklärte Ziel der 2008 begonnen Sanierung war ein Rückbau, der sich möglichst an der ursprünglichen Form orientieren sollte. »Beim Landesmuseum geht es nicht um die Veredelung des Baukörpers, sondern um eine Zurückgewinnung der ursprünglichen Qualität«, betont Prof. Dr. Bernd Küster, Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK). »Seinerzeit hat Theodor Fischer die Ausstellungsräume in Absprache mit Johannes Böhlau, dem ersten Direktor des Landesmuseums, sehr zurückhaltend gestaltet, während Böhlau die Räume sehr virtuos eingerichtet hat. Fischer lieferte eigentlich nur den Hintergrund in den klassischen Ausstellungsräumen«, bestätigt Schirrmacher.
Daher sei man auch aktuell um eine Zurückführung und eine Herausarbeitung des Bauzustands von 1913 bemüht, damit die Ausstellungsgestaltung ihre ursprüngliche Eigenständigkeit wiedererlange. Die nachträglichen Ein- und Umbauten machten das Landesmuseum in der Vergangenheit zu einem »Abteilungsmuseum«. Durch die Wiedergewinnung der alten Substanz sei es gelungen, diese Abteilungen aufzulösen und ein großzügiges Raumkonzept zu realisieren, das den musealen Anforderungen gerecht werde, erklärt der Direktor, der eben diesen Rückbau als »die größte Heldentat« bezeichnet.
Erlebbar werden das ursprüngliche Raumkonzept und der alte Glanz des Museums bereits in der Eingangshalle, die diesen Namen tatsächlich verdient. Das repräsentative Entree, in dem der Kassenbereich und ein Museumsshop untergebracht sind, wurde in den baulichen Originalzustand zurückversetzt. Dem Besucher eröffnet sich der Gang durch ein Foyer, das ihn sowohl durch seine schlichte Größe wie durch seine Ausgestaltung ehrfürchtig staunend innehalten lässt. Vom Eingangsbereich gelangt man durch eine Glastür in den Veranstaltungssaal. Diese Tür ist kein Bestandteil der historischen Baupläne, sondern ein Zugeständnis an die Brandschutz- und Sicherheitsauflagen. Im Saal wurden alte Bogengänge wieder freigelegt, eine nachträglich eingezogene Zwischendecke wurde bereits im Vorfeld der Maßnahme entfernt, wodurch die ursprüngliche Sichtmittelachse vom Wappensaal bis zur Südfassade nun wieder hergestellt ist, was dem Veranstaltungssaal wie dem gesamten Bau ein weitläufiges und lichtes Ambiente verleiht. Doch um das Alte wieder zur Geltung zu bringen, ist ein Rückbau nicht immer ausreichend, manchmal bedarf es dafür auch etwas Neues. So stellt auch das neue Treppenhaus im nordwestlichen Teil des Gebäudes, über das alle Etagen des Museums zu erreichen sind, eine Konzession an Brandschutz und Sicherheit dar. »Durch das neue Treppenhaus konnte der alte Aufgang in seiner ursprünglichen Form trotz niedriger Geländerhöhen erhalten bleiben, was ein absoluter Gewinn für das Haus ist«, befindet Dr. Fabian Ludovico, Projektmanager beim HLM. Ein weiterer Gewinn, nämlich der von zusätzlicher Ausstellungsfläche, ließ sich ebenfalls nur über bauliche Neuerungen erzielen.
Durch die gläserne Überdachung der beiden Innenhöfe des Landesmuseums ist künftig ein Bespielen dieser neu gewonnenen Räume mit jeweils rund 150 Quadratmeter zusätzlicher Fläche möglich. Die Atrien sind optischer Ausdruck des architektonischen Dialogs von Innen und Außen. Da ursprünglich nicht überdacht, orientiert sich der Putz der Innenhöfe an dem der Außenfassade, der Blick auf die Apsis des ehemaligen Kirchenraums vermittelt weiterhin den Eindruck, im Freien zu stehen. Doch gelingt es den Höfen nicht nur, das Innere mit dem Äußeren des Gebäudes in Einklang zu bringen, sondern es erfolgt neben dem architektonischen Brückenschlag auch ein inhaltlicher zwischen den Ausstellungsebenen, die den einzelnen Zeitabschnitten gewidmet sind. Bewusst werden daher in den Innenhöfen, die sich über alle Stockwerke erstrecken, Exponate zu den Themen Landwirtschaft und Rohstoffgewinnung ausgestellt, die für jede Epoche von Bedeutung sind.
Diese Epochen werden auf den jeweiligen Ausstellungsetagen, die nun eine Gesamtfläche von gut 3.800 Quadratmeter bieten, lebendig. Der gesamte Ausstellungsbereich wurde barrierefrei ausgestaltet, die oberen Stockwerke lassen sich bequem mit dem Aufzug erreichen.
Dank der Aufhebung der früheren »Abteilungen« werden sich Besucher künftig die einzelnen Ebenen über Rundgänge mit vorgegebener Leserichtung erschließen können, zeitgemäß begleitet von teils interaktiven Multimedia-Stationen.
Bereits im Erdgeschoss, wo sich die Sammlungen der Vor- und Frühgeschichte bis zum frühen Mittelalter befinden, wird die neue Harmonie zwischen Raum- und Ausstellungskonzept deutlich. Für die Präsentation wurde ein moderner Rahmen gewählt, der einen gelungenen Kontrast zwischen zeitgemäßer Gestaltung und der Sammlung der ältesten Exponate bildet. Hand in Hand gehen das architektonische und das museale Konzept auch in den anderen Etagen: »Jedes Stockwerk wurde aus einem Guss gestaltet«, wie Dr. Ludovico bestätigt. Auch im ersten Obergeschoss orientiert sich die Raumsprache an der Sammlung der angewandten Kunst des Hochmittelalters. Dank gedeckter Farben und einer dezenten Beleuchtung wurde ein gediegenes Ambiente geschaffen, in dem die prunkvollen Kunstschätze ihre Wirkung voll entfalten können. Hier wurde bewusst ein »Schatzkammerambiente« gewählt, wie es Ludovico nennt.
Dem aufmerksamen Museumsbesucher dürften viele der Exponate bereits bekannt vorkommen, auch wenn diese dank der durchdachten Präsentationsform in ein gänzlich neues Licht gerückt werden. Anderes hingegen wird durch die Erweiterung der Ausstellungfläche erstmalig zu sehen sein.
Die volkskundliche Sammlung, die bislang im Depot ein wenig beachtetes Dasein fristete, wird nun erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hier wird die Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts anhand der Kontraste zwischen Arbeits- und Freizeitwelten der Fabrikarbeiter oder den Unterschieden in den Wohn- und Lebenswelten des Bürgertums und der Arbeiterklasse dokumentiert.
Ein neuer Raum gewährt Einblicke in die Rolle der Frau, die Frauenbewegung und Emanzipation. Ebenfalls neu ist der originalgetreue Nachbau einer Webblattbinderei mit halbautomatisierten Originalmaschinen wie einem industrialisierten Webstuhl, einer Webblattbindemaschine sowie einer Umspann- und Zwirnmaschine. In dem engen Raum zwischen den mannshohen Maschinen bekommt man ein Gefühl dafür, unter welchen Umständen kleine Unternehmen den Übergang vom Handwerks- zum effizienten Industriebetrieb vollzogen haben, und was nötig war, um wirtschaftlich überleben zu können.
Endete der Ausflug in die hessische Landesgeschichte zuvor im 18. Jahrhundert, so wird dieser künftig auch die Zeit bis zur Wiedervereinigung 1990 umfassen. Beachtenswert sind bei der Präsentation der unterschiedlichen Epochen auch die variierenden Blickwinkel auf diese. Wird etwa die landgräfliche Geschichte nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage aus Sicht der Herrschenden beleuchtet, empfangen den Besucher in der volkskundlichen Sammlung 140 Porträts von Zeitgenossen, die anhand ihrer persönlichen Erlebnisse von historischen Ereignissen berichten. Die Bespielung der Räume für die beiden Weltkriege erfolgt durch zeitgenössische Dokumentationen, wie Propagandareden an Hörstationen oder die heimlich gefilmte Sprengung der Edertalsperre, wohingegen für die Betrachtung der Jahre bis 1990 ein medialer Blickwinkel gewählt wurde.
Dem Besucher bietet sich künftig auf den ersten Blick ein schlüssiges Ausstellungskonzept, das sich inhaltlich durch das gesamte Museum zieht. Ebenso schlüssig, wenn auch bisweilen erst auf den zweiten Blick, ist das Zusammenspiel der Baustoffe, das sich an vielen Stellen im Haus beobachten lässt. Die Travertinsäulen im ehemaligen Kirchenraum etwa greifen den Bezug zu den Pilastern der Außenfassade auf. Auch dort funktioniert das Zusammenspiel des neuen Fassadentons, der sich an einer bei der Begutachtung entdeckten historischen Putzstelle orientiert, mit den Travertinelementen. Viele Böden aus Parkett, Terrakottaplatten oder Gipsestrich sind bauzeitliche Originale und wurden lediglich ausgebessert. An anderen Stellen wurden neue Böden aus Gussasphalt verlegt, wobei darauf geachtet wurde, dass auch die Fußböden ihren Beitrag zum harmonischen Miteinander der Innenraumgestaltung und der Ausstellungskonzeption leisten.
Die Verantwortlichen sind überzeugt, dass der erfolgte Rückbau zum Originalzustand des Landesmuseums – trotz einiger nicht unwesentlicher Neuerungen – als gelungen anzusehen ist. Doch was würde der Architekt Theodor Fischer dazu sagen? »Er würde uns auf die Schulter klopfen und sagen: So hätte ich mir das auch vorgestellt«, ist sich MHK-Direktor Küster sicher. Wir werden es wohl nicht erfahren. Doch kann man sich ausmalen, wie Fischer, nachdem er sich bei einem Rundgang von der gelungenen Adaption seiner ursprünglichen Idee vom Zusammenspiel des architektonischen und des musealen Konzeptes überzeugen konnte, im künftig für Besucher zugänglichen Turm des Landesmuseums steht, den Blick über die beiden markanten Sichtachsen schweifen und sich tatsächlich zu einem anerkennenden Schulterklopfer hinreißen lässt.
Unter unseren Füßen – Von der Altsteinzeit bis ins frühe Mittelalter Seit über 300.000 Jahren hinterlassen Menschen vielfältige Spuren auf hessischem Boden. Viele Entdeckungen und Entwicklungen veränderten ihre Lebensumstände dabei nachhaltig. Von den ersten groben Steinwerkzeugen, die unsere Vorfahren hier fertigten, bis zu den christlichen Missionaren war es jedoch ein langer Weg. Die Ausstellung zur Vor- und Frühgeschichte erzählt von einschneidenden Umbrüchen, wie etwa der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht oder der Entdeckung der Metallverarbeitung. Die archäologischen Funde bieten einen Einblick in längst vergangene Lebenswelten: Sie berichten beispielsweise von der Technik der Faustkeilherstellung, zeigen, wie sich die wohlhabenden Damen der Bronzezeit schmückten, oder bezeugen, mit welchen Schwierigkeiten der Missionar Bonifatius zu kämpfen hatte.
Aus der Schatzkammer der Geschichte – Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert Vom 13. bis zum 19. Jahrhundert lenkte das Geschlecht der Landgrafen von Hessen die Geschicke der Region. Tiefgreifende Ereignisse wie die Reformation, der Dreißigjährige Krieg oder die Herrschaft Napoleons veränderten das Europa jener Zeit – und prägten auch Nordhessen maßgeblich. Ein vielschichtiges Bild dieser bewegten Jahrhunderte offenbaren die Exponate der Sammlung Angewandte Kunst. Kunstwerke aus Kirchen und Klöstern, aus Städten und Dörfern und vor allem aus dem Besitz der hessischen Landgrafen zeugen von der prachtvollen Hofkultur und dem Sammeleifer der Fürsten. So werden internationale Politik, aber auch der Alltag der Menschen zu neuem Leben erweckt.
Mitten im Leben – Vom 19. bis ins 21. Jahrhundert Seit dem 19. Jahrhundert bestimmt ein rasanter Wandel viele Bereiche des Lebens. So ersetzten Maschinen vielerorts die handwerkliche Produktion. Neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel wie Eisenbahn und Telefon beschleunigten den Alltag der Menschen. Kriege und Gewaltherrschaft brachten Leid und Zerstörung, bevor im neu gegründeten Bundesland Hessen ein Neuanfang in Demokratie und Wohlstand gelang. Die Wiedervereinigung 1989/90 rückte Hessen schließlich wieder in die Mitte Deutschlands. Vielfältige Objekte aus der Sammlung Volkskunde erlauben Einblicke in das Ringen der Bürger um politische Mitsprache- und Freiheitsrechte oder veranschaulichen den Übergang vom Handwerk zur Industrie. Zeitzeugenberichte spiegeln den Alltag in Krieg und Nationalsozialismus wider und zeigen, was die Menschen der Region in der jüngeren Vergangenheit bewegte.
Autor: Peer Bergholter; Fotos: Arno Hensmanns